Der Preis der Turboreformen
Stefania Madonna versucht mit dem Kinderwagen auf dem extrem schmalen Gehsteig der Via Boccea durchzukommen. Der dichte Verkehr und die eng geparkten Autos und Mopeds machen den Einkaufsbummel mit Baby zu einer Odyssee. „Es ist hart, aber was soll ich machen“, bewahrt Stefania Fassung.
Stefania Madonna und Ehemann Mario Sacco leben mit ihrem sechs Monate alten Baby Samuele in einer kleinen Zweizimmer-Wohnung mit Balkon im Stadtteil Boccea. Obwohl nur wenige Kilometer vom Vatikan entfernt, verirren sich keine Touristen an die westliche Peripherie Roms. Das Viertel ist eine typische Wohngegend und beim Mittelstand beliebt: Familien mit Kindern, Pensionisten und junge Leute wissen die gute Infrastruktur und die relativ zentrale Lage zu schätzen. Aber die bittere Sparmedizin, die der vor einem Jahr angetretene Mario Monti dem hoch verschuldeten Land verabreicht hat, macht auch Familie Sacco zu schaffen – die Kürzungen und Steuererhöhungen, die neue Immobiliensteuer (Imu), die Anhebung des Pensionsalters.
Zahlungsforderung
„Es ist eine Mischung aus der allgemeinen Wirtschaftskrise und Montis Sparplänen, die die Situation sehr schwierig macht. Die Wiedereinführung der Imu, die wir schon sehr gespürt haben, war bis jetzt von allen Monti-Reformen die härteste“, sagt die Jungfamilie. „Ich habe bereits die erste Rate von 150 Euro bezahlt, die nächste Zahlungsforderung, deren Höhe ich noch nicht abschätzen kann, wird im Dezember fällig“, erzählt Stefania. Die Immobiliensteuer belastet vor allem Eigentümer kleiner Wohnungen. Die zweite Rate dürfte laut Kalkulation des Bauwirtschaftsverbands „Confedilizia“ in Rom und Neapel noch höher ausfallen. Dadurch sollen jährlich 1,6 Millionen Euro in die marode Staatskasse fließen.
Seit der letzten Benzinpreiserhöhung bleibt auch bei Familie Sacco das Auto die meiste Zeit in der Garage. „Ein Liter Benzin kostet in Rom derzeit zwei Euro, da gehe ich lieber zu Fuß in die Arbeit oder nehme den Bus“, so Stefania. Ehemann Mario kämpft sich jeden Morgen auf seinem Motorrad durch den Verkehrsstau in sein Atelier. Der 42-jährige Römer ist freiberuflicher Architekt. Kopfzerbrechen bereiten ihm vor allem die großen Zahlungsverzögerungen seiner Kunden. Dazu zählen Privatleute ebenso wie die Region Latium, die erst jüngst durch Verschwendungssucht und Korruption ihrer Regionalpolitiker in die Schlagzeilen geriet. „Fast alle finanzieren ihre Bauprojekte über Kredite, deren Raten sie irgendwann nicht mehr zahlen können.“
Mehrwertsteuer
Immer mehr Italiener kapitulieren vor den immensen Steuerbelastungen. Im Juli wurde die Mehrwertsteuer IVA (bisher 20 Prozent) erneut um einen Prozentpunkt erhöht. Der römische Rechnungshof kritisierte, einkommensschwache Familien und der Mittelstand würden den höchsten Preis für das Sparpaket zahlen.
Die Arbeitssituation von Stefania ist noch kritischer. „Meine Kollegen und ich haben bereits seit drei Monaten keinen Lohn mehr bekommen“, klagt die Immunologie-Forscherin am renommierten Krankeninstitut IDI, gegen das gerade ermittelt wird. Durch Fehlinvestitionen und Korruption fehlen 600 Millionen Euro in der Verwaltungskasse. Die Angestellten streiken. Sie fordern die Auszahlung ihrer Gehälter und die Aufklärung der Misswirtschaft.
Montis Sparkurs wirkt sich auf den Gesundheitssektor mit Kürzungen in Höhe von einer Milliarde Euro besonders drastisch aus. Zahlreiche kleine lokale Spitäler wurden geschossen. Das hat zur Folge, dass große Krankenhäuser in den Ballungszentren hoffnungslos überlaufen sind. Zudem sind die Behandlungskosten deutlich gestiegen. Besonders belastend sind die langen Wartezeiten für wichtige Untersuchungen. „Ich habe im Oktober um eine Magnetresonanz angefragt, der früheste Termin wäre im Jänner 2013 frei gewesen“, sagt die gebürtige Neapolitanerin Stefania. Der 37-Jährigen blieb keine andere Wahl, als einen Privatarzt zu konsultieren. „Statt vierzig Euro in einem öffentlichen Krankenhaus zahlte ich privat das Vierfache“.
Wartezeiten
Noch schlimmer sei die Situation im süditalienischen Kampanien, wo ihre Eltern leben. Patienten müssten dort stundenlange Wege zum nächsten Arzt zurücklegen und eine Ewigkeit auf Spezialuntersuchungen warten. Für scharfe Proteste sorgte Montis Pensionsreform mit der Erhöhung des Rentenan¬trittsalters. Frauen müssen künftig bis 63 Jahre arbeiten, Männer bis 67 Jahre. „Da bei meinem prekären befristeten Vertrag die monatlichen Pensionsbeiträge sehr gering sind, werde ich bestenfalls eine Mini-Pension von 350 Euro erhalten“, blickt Stefania, wie die meisten ihrer Generation, sehr besorgt in die Zukunft.
Silvios Ende: Am 12. 11. 11 tritt der durch Sexskandale und Wirtschaftskrise angeschlagene Silvio Berlusconi zurück.
Nachfolge: Präsident Napolitano zaubert den parteilosen Wirtschaftsfachmann Mario Monti als Nachfolger aus dem Hut. Der 69-Jährige legt am 16.11. ’11 den Amtseid ab. Rasch folgen Sparpaket (26 Mrd.), Schuldenbremse, Renten- und Arbeitsmarktreform.
Einer wie Berlusconi geniert sich nicht. Ein Jahr nach seinem klanglosen, gebückten Abschied von der Macht protzt der 76-Jährige wieder. Er habe Italien gerettet, und er habe einen Fehler gemacht, als er das Amt des Ministerpräsidenten an Mario Monti übergeben habe, erklärte Silvio Berlusconi jetzt vor Journalisten in Rom.
Und während der inzwischen wegen Steuerbetrugs verurteilte Unternehmer versucht, seine Partei irgendwie am Leben zu halten, grübeln die Italiener, warum sie diesen peinlichen Angeber seit 1994 immer wieder ins Amt gewählt haben.
Pier Luigi Bersani, der Parteichef des Mitte-links-Bündnisses mit kommunistischen Wurzeln und philosophischen Neigungen, neigt nachdenklich den Kopf, wenn er beginnt, über Berlusconi zu reden. „Er stand anfangs für einen liberalen Traum“, sagt Bersani, „und er stand für das Gefühl vieler Italiener, gegen den Staat, gegen die Finanz und für die individuelle Freiheit zu sein.“
Mario Monti, der seit einem Jahr den Scherbenhaufen von Berlusconis Schuldenpolitik aufräumt, bleibt auch ganz ruhig, wenn er auf seinen Vorgänger
angesprochen wird. Dessen Partei Pdl (Volk der Freiheit) habe alle Reformen mitgetragen.
Wahlkampf
Damit könnte es nach der Wahlniederlage der Berlusconi-Truppe in Sizilien vor zwei Wochen zu Ende sein. Jetzt spricht der ehemalige Ministerpräsident von einem „generellen Grausen der Bevölkerung vor der Regierung der Techniker“. Monti regiert ja seit einem Jahr mit Experten das Land. Unterstützt wird er dabei im Parlament sowohl von Mitte-links als auch von Berlusconis Partei.
Aber jetzt hat der Wahlkampf für die Parlamentswahl im Frühjahr begonnen. Und die Wähler wissen noch immer nicht, wer kandidieren wird. Im Mitte-links-Bündnis Partito Democratico liefern einander Parteichef Bersani und die Zukunftshoffnung Matteo Renzi einen innerparteilichen Kampf um die Spitzenkandidatur.
Renzi ist 37 Jahre jung, Bürgermeister von Florenz, wirtschaftlich unabhängig und reist gerade im Camper durchs Land, um Punkte für die Vorwahlen zu machen. Er symbolisiert die Sehnsucht der Italiener nach einem Politiker, der nichts mit den alten Gesichtern zu tun hat, die sie trotz aller Umbrüche seit Jahrzehnten kennen. Und der das Amt nicht zum eigenen Vorteil missbraucht.
Neue Regierung
Auch Renzi kann nicht grundsätzlich gegen das Sparprogramm der Regierung Monti argumentieren, aber er muss sich auch nicht damit identifizieren. Parteichef des Partito Democratico ist ja Bersani, der weiß, dass seine Wähler aus der Arbeiterschaft und dem Kleinbürgertum unter den Sparmaßnahmen wirklich leiden, der aber keine Alternative anbieten kann.
Also ist heute völlig offen, wer im Frühjahr die Expertenregierung Monti ablösen wird. Das verrottete Parteiensystem im Nachkriegsitalien wird nicht wieder auferstehen. Den Glauben an einen politischen Erlöser hat Silvio Berlusconi selbst zerstört. Regionale Erscheinungen wie die rechtspopulistische Lega Nord gehen gerade im eigenen Korruptionssumpf unter und unterhaltsame Figuren wie der Komiker Beppe Grillo stellen keine Alternative zu einer Regierung dar.
Den Italienern steht ein Wahlkampf bevor, in dem sie viele Ideen hören werden, wie das Sparprogramm verändert werden könnte. Aber sie haben in den letzten Jahren zu viele falsche Versprechen gehört.
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