Der Brexit durch die irische Brille

Die Angst vor einem EU-Austritt überwiegt – einige Iren haben aber ein Brexit-Argument.

Wer auf der M1-Autobahn von Dublin nach Belfast fährt, merkt kaum, dass er dabei eine Staatsgrenze überquert. Es gibt nicht einmal ein Straßenschild, das darauf hinweist, dass man nach rund einer Stunde Fahrzeit nicht mehr in der Republik Irland, sondern in Großbritannien ist. Die Geschwindigkeitsbegrenzungen werden nun in Meilen statt in Kilometern angegeben. Sonst sieht alles gleich aus.

Das war nicht immer so. "Hier gab es früher strenge Kontrollen durch schwer bewaffnete britische Soldaten und kilometerlange Staus beim Grenzübertritt", erinnert sich Colm Latham aus der nordirischen Grenzstadt Newry an die dunklen Zeiten des nordirischen Bürgerkriegs.

Das sogenannte Karfreitagsabkommen beendete vor knapp 20 Jahren, 1998, den jahrzehntelangen blutigen Konflikt zwischen mehrheitlich katholischen Republikanern und protestantischen Unionisten. Ein entscheidender Bestandteil des Abkommens war, die Grenze zwischen beiden Staaten unsichtbar zu machen. Das war für die Republikaner, die großteils einen Anschluss an Irland wollten, ein wichtiges Zugeständnis.

Wieder eine Grenze

Doch die rund 500 Kilometer lange Grenze könnte schon bald wieder sichtbar und spürbar werden. Nämlich dann, wenn die Briten beim Referendum am 23. Juni für den Austritt aus der EU stimmen. Der Brexit würde die innerirische Grenze zu einer EU-Außengrenze mit Kontrollen machen. Irlands Regierungschef Enda Kenny warnte davor kürzlich bei einem Besuch in Belfast: "Der Brexit würde Instabilität und Unsicherheit schaffen." Radikale Republikaner könnten wieder zu den Waffen greifen, warnen Beobachter.

Dass der Frieden in Nordirland nach wie vor fragil ist, zeigen jedes Jahr im Juli die Ausschreitungen rund um die traditionellen Paraden des Oranier-Ordens. In der nordirischen Regierungskoalition, die aus den größten Parteien auf beiden Seiten besteht, herrscht gegenseitige Blockade. Laut Umfragen ist eine große Mehrheit der Republikaner gegen den Brexit. Die Unionisten sind gespalten.

Arbeitsplätze in Gefahr

Experten rechnen neben den politischen im Falle eines Brexit mit schweren wirtschaftlichen Folgen auf beiden Seiten der Grenze. Die nordirische Wirtschaftsleistung könnte wegen der neuen Zollschranken an der EU-Außengrenze jährlich um drei Prozent geringer ausfallen, warnt Leslie Butt von der Open University in Belfast. Der britische Finanzminister George Osborne sieht 15.000 Arbeitsplätze in Nordirland gefährdet, sollte es zum Brexit kommen. Dazu kommt, dass EU-Förderprojekte in Nordirland gestoppt werden würden.

Auch die Wirtschaft in der Republik Irland würde aus Sicht der meisten Wirtschaftsexperten hart getroffen werden. Großbritannien, der mit Abstand wichtigste Handelspartner Irlands in der EU, wäre nicht mehr Teil des Binnenmarktes.

Mini-Rezession

Kurzfristig würde der Brexit wohl das Pfund schwächen, was Importe aus Irland verteuern würde. Zumindest in den Grenzregionen in Nordirland könnte es eine "Mini-Rezession" gegeben, sagt Unternehmer Paul Valley aus Newry. "Die Frage ist nicht ob, sondern wie sehr der Handel leiden würde."

Umfragen sagen beim Brexit-Referendum ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus. Eine entscheidende Rolle könnte ausgerechnet den rund 400.000 Iren zukommen, die in allen Teilen Großbritannien leben und dort – im Gegensatz zu anderen EU-Bürgern – bei Referenden mitstimmen dürfen. Auch in Großbritannien lebende Bürger aus dem Commonwealth dürfen abstimmen.

Vereinigtes Irland

Mancher Ire wünschen sich insgeheim ein Nein der Briten zur EU. "Schottland und Nordirland, die beide eher pro-europäisch sind, würden sich nach einem Brexit von Großbritannien abspalten", prophezeit ein Funktionär der irisch-republikanischen Sinn-Fein-Partei, der anonym bleiben will. So könnte der Traum von einem vereinigten Irland doch noch wahr werden.

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