"Das wird die Türkei verändern"
„Das war schon eine kleine Revolution. Man hat gesehen, dass die Regierungspartei (des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan) auch verlieren kann.“ So lautet das Kurz-Resümee des Politologen Hüseyin Bağci, der in Ankara lehrt, zur Bürgermeisterwahl in Istanbul. Dort gewann am Sonntag der Kandidat der Opposition, Ekrem Imamoğlu, nach der Annullierung des ersten Urnengangs auch den zweiten. Und wie: Der 49-Jährige, der auf positive Inhalte setzt und auf Untergriffe verzichtet, schaffte 54 Prozent und hängte den Bewerber der herrschenden AKP, Ex-Premier Binali Yildirim, gleich um 800.000 Stimmern ab.
Bağci betont im Gespräch mit dem KURIER, dass damit „Erdoğans Polarisierungspolitik“ abgewählt worden sei, die „über Leichen geht“. Die Menschen hätten für einen neuen Politikstil votiert, der „die ganze Türkei verändern wird“, so der Experte. Das habe man schon einen Tag nach der Wahl spüren können – auf den Straßen oder in den sozialen Medien: „Die Leute haben wieder Hoffnung.“
„Darauf bin ich stolz“
Zugleich wertet der Politologe das Ergebnis als Sieg der Demokratie. Seine Landsleute hätten bewiesen, dass sie „wahre Demokraten“ seien. Damit sei endgültig klar, dass die Türkei nie wie der Iran sein werde und sich auch nicht islamisieren lasse. Und dann verlässt Bağci die streng wissenschaftliche Ebene und wird emotional: „Darauf bin ich stolz.“
Das „politische Charisma Erdoğans ist schwer beschädigt worden“, führt der Wissenschaftler weiter aus. Er werde in der türkischen Innenpolitik nicht mehr so bestimmend sein wie bisher. Außerdem werde der Ruf nach der Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie lauter werden – sie war ja nach dem Referendum 2017 in ein Präsidialsystem überführt worden. Nach dem Urnengang in Istanbul, wo immerhin jeder fünfte Türke lebt, ist Bağci überzeugt: „Die Ära Erdoğans wird in demokratischer Weise zu Ende gehen.“ Allerdings: Die nächsten landesweiten Parlaments- und Präsidentenwahlen finden regulär erst 2023 statt.
AKP vor Spaltung?
Doch schon viel früher, da ist sich der Politologe sicher, werde es neue Akteure und Parteien geben: „Es wird erwartet, dass ehemalige Weggefährten des Präsidenten um Ahmet Davutoğlu (Ex-Premier) und Ali Babacan (Ex-Außenminister) eine eigene Partei gründen.“ Der Unmut innerhalb der AKP über die bisherige Ausrichtung sei schon länger groß, jetzt habe sich endgültig gezeigt, dass der Kurs nicht erfolgreich sei.
Ekrem Imamoğlu hingegen ist gleichsam über Nacht zum künftigen Präsidentschaftskandidaten gewachsen. Nicht von ungefähr: Schon Erdoğan wusste aus seiner Zeit als Bürgermeister seiner Heimatstadt, dort also, wo seine Karriere den Ausgang nahm: „Wer Istanbul regiert, der regiert die Türkei.“
Intellektuelles und ökonomisches Herz
Tatsächlich ist die Bosporus-Metropole nicht nur das pulsierende künstlerische und intellektuelle Herz der Türkei, sondern auch die ökonomische Lokomotive des ganzen Landes. In der Region wird fast ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts generiert, die umgerechnet 146 Milliarden Euro entsprechen der gesamten Volkswirtschaft Bulgariens. 40 Prozent aller Steuereinnahmen stammen von dort. Und: Der künftige Chef der mit Abstand größten Stadt Europas (16 Millionen Einwohner) verwaltet ein Budget von sechs Milliarden Euro.
Imamoğlu freilich muss jetzt liefern – und die Liberalen in der Türkei hoffen, dass er das kann und dessen zentraler Wahlkampf-Slogan wahr wird: „Herșey cok güzel olacak“, alles wird sehr gut.
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