"Darauf einstellen, dass das ab jetzt unser Leben ist"

Ansage an die Terroristen: „Ich war Toulouse. Ich war das Jüdische Museum in Brüssel. Ich war Charlie. Ich bin Paris, Ich bin da. Ich lebe. Fuck you terrorists.“
Die Pariser bemühen sich um Normalität und sind am Rande ihrer nervlichen Kapazitäten. Der Direktor der Schauspielschule Jacques Lecoq hat die Panik miterlebt.

Im Jardin du Luxembourg sind meistens schon früh die Jogger unterwegs. Dienstag um halb acht traben die Morgensportler im Nieselregen am Außenzaun der 25 Hektar großen Anlage entlang. In den Tagen nach den Attentaten bleibt der Park im eleganten sechsten Arrondissement zwischen Saint-Germain-des-Prés und dem Quartier Latin geschlossen. Vor den Toren stehen schwer bewaffnete Polizisten. Inmitten des Parks befindet sich das Palais du Luxembourg, wo am Montag der Senat eine Schweigeminute für die Opfer der Attentate abgehalten hat. An die ständige Polizeipräsenz werden sich die Pariser gewöhnen müssen.

Schauplatzwechsel in ein weniger nobles Viertel. Das zehnte Arrondissement rund um den Gare du Nord. Von den Seitengassen um die Rue du Faubourg St. Denis sieht man gerade noch die Spitze des Eiffelturmes. Ansonsten ist man von Touristenattraktionen weit entfernt.

Einwanderer

Hier trifft das Viertel der Einwanderer aus der Elfenbeinküste auf die indische, die japanische und die chinesische Community. Kleine Handwerksgeschäfte, Fleischhauer, Bäcker, Ramschläden. Ein Haarschnitt kostet hier sieben Euro, und bei "Délice du Château" kann man Crèpes, kleine Eiffeltürme aus Metall und Handyzubehör kaufen. Zuletzt haben sich immer mehr schicke Lokale dazwischengeschummelt, der zehnte Bezirk erfährt, wie man es bei uns nennen würde, eine Gentrifizierung, wird langsam zum hippen Viertel. "Branché", nennt man das auf Französisch.

"Darauf einstellen, dass das ab jetzt unser Leben ist"
Andreas Vitasek, der 1979 in der Schauspielschule Lecoq war
Hier, in einem ehemaligen Boxclub, hat sich vor bald vierzig Jahren die Schauspielschule Jacques Lecoq niedergelassen. 1956 gegründet, hat die Schule weltweites Renommee: Gründer Jacques Lecoq war Theaterpädagoge und gehörte zu den Vertretern der modernen Pantomime. Ausgangspunkt seiner Lehre ist der menschliche Körper mit seinen verschiedenen Ausdrucksmöglichkeiten. An seiner Schule werden Musik, Malerei, Tanz, Poesie und Akrobatik gleichberechtigt gelehrt und eingesetzt. Zu seinen Schülern gehörten Künstler wie Luc Bondy, Christoph Marthaler, Ariane Mnouchkine, Yasmina Reza – und Andreas Vitásek, der die Schule von 1979 bis 1980 besuchte. Sein Foto ist, gemeinsam mit anderen Porträts ehemaliger Schüler, beim Eingang zu sehen. Der junge Vitásek schneidet darauf eine Grimasse.

Über einen verwinkelten, begrünten Innenhof des 140 Jahre alten Gebäudes gelangt man zum Büro von Richard Lecoq, der die Schule seit dem Tod seines Vaters führt.

Lecoq, 50, ist Theatermann, Filmemacher, Musiker und ein typischer Pariser Linksintellektueller. Aufgewachsen in Paris, hat er sein ganzes Leben hier verbracht. Die Attentate haben ihn persönlich erschüttert, seine linksliberalen Überzeugungen jedoch weiter gefestigt.

"Den Sohn gepackt"

Lecoq erzählt, wie er am Sonntag mit seiner Freundin und seinem Sohn auf der Place de la République war, um der Opfern zu gedenken. Er hat die Panik miterlebt, die vermutlich durch einen blöden Scherz ausgelöst wurde. "Als die Menschen rannten, packte ich meinen kleinen Sohn und rannte mit. Wir haben uns in einem Hauseingang versteckt."

"Darauf einstellen, dass das ab jetzt unser Leben ist"
Richard Lecoq
Sein Sohn ist drei Jahre alt, Richard muss ihm noch nicht, wie so viele Eltern ihren Kindern, erklären, ob jetzt der Dritte Weltkrieg ausbricht – was viele Junge derzeit in sozialen Medien diskutieren. Sie haben Angst. Bei der Trauerminute in den Schulen am Montag gab’s nicht einmal die üblichen Teenager-Blödeleien, erzählen Lehrer.

"Die Leute sind momentan sehr schreckhaft, am Rande ihrer nervlichen Kapazität. Ich weiß nicht, ob und wann wir zur Normalität zurückkehren werden", sagt Richard. "Vielleicht müssen wir uns darauf einstellen, dass das ab jetzt unser Leben ist. Schon seit Charlie Hebdo hat sich Paris verändert."

"Vielleicht", setzt er hinzu, hat sich in einer Woche alles ein bisschen beruhigt." Es klingt wenig hoffnungsvoll. Zugleich aber sieht er die Werte der Franzosen weiter gefestigt: "Wir glauben an die Freiheit. Was jetzt passiert, bestärkt uns in unseren Überzeugungen."

"Werte attackiert"

Ob das Klima nun ausländerfeindlicher werde? "Nicht hier, nein. Ich weiß aber nicht, was sonst in Frankreich los ist." Natürlich gebe es jetzt für viele die Versuchung der Rechtsextremisten, aber "wir müssen uns einander annähern, anstatt uns auseinanderdividieren zu lassen. Wir sind uns alle einig, dass hier unsere Werte attackiert wurden. Jetzt heißt es, die richtigen Antworten zu finden."

Lecoqs Antwort ist das Theater. "Die Kunst kann helfen, zu verstehen. Sie schärft den Verstand und das Beurteilungsvermögen. Sie lehrt, zu differenzieren. Das ist ihre Aufgabe."

Paris ist dieser Tage noch unter dem Schock der Emotionen. Der Terror steht vielen noch ins Gesicht geschrieben, aber das Leben wird weitergehen. Aufmerksam, aber ruhig bleiben, dem Schmerz nicht stattgeben, lautet die Devise. "Die Menschen unterstützen einander", sagt Richard Lecoq. "Gelassenheit ist gefragt."

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