EU

Der Brexit-Poker spitzt sich zu

EU kommt Cameron entgegen, doch der Widerstand wächst

In Downing Street 10, dem Sitz des britischen Premiers, herrscht Jubelstimmung. David Cameron hat in wochenlangen Hinterzimmer-Verhandlungen mit den EU-Spitzen erreicht, was er für das EU-Referendum braucht: Ein Reformpaket, das den Wählern einen Verbleib in der EU schmackhaft machen soll und sie nicht zum EU-Austritt, dem „Brexit“, treibt.

Zeitlich abgestimmt haben sich Dienstagmittag EU-Ratspräsident Donald Tusk und Cameron zum Inhalt des Pakets geäußert: Ein „echter Fortschritt“ seien die Vereinbarungen, tönt es aus London. Insbesondere sei darin eine „Notbremse“ vorgesehen, damit Großbritannien bestimmte Sozialleistungen für neu eingewanderte EU-Bürger bis zu vier Jahre einschränken kann.

Vorsichtiger Tusk

Zurückhaltender ist Tusk. „Die Einheit der EU aufrechtzuerhalten ist unsere größte Herausforderung“, schreibt er den EU-Staats- und Regierungschefs. Dem Brief beigefügt ist auch der neunseitige Reformplan. Tusk fürchtet, dass er im Entgegenkommen britischer Anliegen bis zum Äußersten gegangen sei und möglicherweise europäische Prinzipien, wie das Nicht-Diskriminierungsrecht, zu weit interpretiert habe.

Beim EU-Gipfel am 18. und 19. Februar könnte es zum Showdown kommen, wenn die Vorschläge verhandelt werden. Widerstand droht von Polen und anderen Osteuropäern. Ob bei dem Spitzentreffen das Reformpaket abgesegnet wird, ist offen. Cameron drängt jedenfalls darauf, weil er ahnt, dass lange Verhandlungen den Inhalt verwässern und die Wähler verärgern könnten. Geht es nach seinem Willen, sollte das Brexit-Referendum noch vor dem Sommer über die Bühne gehen.
In der Briten-Vereinbarung steht, dass das Vereinigte Königreich nicht verpflichtet ist, sich weiter in die EU zu integrieren. Im Gegenteil: Mit den erneut zugestandenen Ausnahme-Regelungen würde es seinen Sonderstatus weiter ausbauen. Derzeit haben die Briten folgende Ausnahmen: Briten-Rabatt, keine Euro-Teilnahme, keine gemeinsame Innen- und Justizpolitik und keine Schengen-Mitgliedschaft. Erwähnt ist, dass Großbritannien als Nicht-Euro-Staat die Politik der Euro-Zone nicht behindern darf, also kein Veto hat.

Rote Karte

Durchgesetzt hat sich Cameron bei der Stärkung nationaler Parlamente, die die Rote Karte ziehen können, wenn ihnen ein EU-Gesetzesvorschlag nicht passt. Um eine Initiative zu blockieren, braucht es 55 Prozent der Parlamente, was keine allzu große Hürde ist.

Kaum waren die Reformvorschläge veröffentlicht, hagelte es Kritik vonseiten des Europäischen Parlaments. Präsident Martin Schulz findet, dass nicht noch mehr „britische Extrawürste gebraten werden dürfen“. Abgeordnete quer durch alle Fraktionen befürchten einen Domino-Effekt: Das Gemeinsame in der EU drohe zu zerbröseln.

Zufrieden sind die EU-Gegner, die im britischen Verhandlungserfolg einen „Aufstand gegen Brüssel“ sehen.

"Eine Linie, die ich nicht überschreiten konnte, waren die Prinzipien, auf denen das Europäische Projekt gegründet ist", schrieb EU-Ratspräsident Donald Tusk an die EU-Länderchefs. Seinem heute veröffentlichten Entwurf zufolge könnte die EU der britischen Regierung allerdings das Recht einräumen, Arbeitnehmern aus anderen EU-Staaten bis zu vier Jahre lang Sozialleistungen zu verweigern. Beim EU-Gipfel am 18. und 19. Februar sollen diese "Notbremse" und weitere Zugeständnisse diskutiert werden.

Es ist kein Zufall, dass Tusk pathetische Worte wählt, die an die Überschreitung des Rubikon durch Cäsar erinnern. Zudem beschrieb Tusk die Verhandlungen am Sonntag auf Twitter als "intensiv".

Keinesfalls soll der Eindruck erweckt werden, in den Verhandlungen mit London würden europäische Prinzipien leichtfertig über Bord geworfen. Offenbar will man David Cameron aber auch nicht seinen Verhandlungserfolg verwehren. In der geplanten Abstimmung über den "Brexit", die er seinen Landsleuten vor der Wahl versprochen hat, könnte Cameron dann mit gutem Gewissen – wiewohl mit theatralischem Zähneknirschen – ein "Ja" zu Europa empfehlen.

Von Tusk wird derzeit viel Fingerspitzengefühl verlangt. Dennoch stellt sich die Frage, ob mit diesem Entgegenkommen nicht eine wichtige Linie überschritten wird. Laut dem Dokument wird schließlich betont, dass sich Großbritannien nicht an Maßnahmen beteiligen müsse, die zu einem engeren Zusammenschluss der Union führen. London wird sogar zugesagt, dass die Rechte von Nicht-Euro-Staaten geschützt und die Rolle nationaler Parlamente gestärkt werden sollen.

Nicht nur, dass die Briten sich damit von europäischen Integrationsprozessen entfernen – einige europäische Partnerstaaten werden die Botschaft nur zu genau hören. Auch sie würden in Zeiten zunehmender Europaskepsis nur zu gerne Extrawürste braten, haben die Regierenden doch in vielen Ländern nationalistische Parteien im Nacken. Wenn nicht schon, wie beispielsweise in Ungarn, Nationalisten an der Macht sind, die sich etwa in der Flüchtlingsfrage unsolidarisch zeigen.

Vorbild Österreich

Nicht neu ist, dass länderspezifische Interessen in Protokollen zum EU-Vertrag berücksichtigt werden, etwa bei der Beibehaltung des Abtreibungsverbots in Irland. Auch hierzulande hat man bereits einmal um eine nachträgliche Ausnahmegenehmigung gebeten. Seit dem Studienjahr 2006/07 sind 75 Prozent der Plätze bei Medizinstudien für Inhaber österreichischer Maturazeugnisse reserviert, 20 Prozent für EU-Bürger und fünf Prozent für Nicht-EU-Bürger. Gegen diese "Medizin-Quotenregelung" leitete die EU-Kommission allerdings ein Verfahren ein, das durch ein vereinbartes Moratorium noch bis Ende 2016 ruht.

Die EU wäre gut beraten, die Zugeständnisse an Großbritannien wenigstens in ein solches Moratorium zu packen, und die geplante Einschränkung von Sozialleistungen dem Grunde nach zu verurteilen. Ansonsten dehnt man die Linie, von der Tusk gesprochen hat, aus.

Außerdem ist der "Sonderfall Großbritannien" zu relativieren: Auf der Insel sind zwar überdurschnittlich viele Zuwanderer aus EU-Ländern zu verzeichnen, andererseits sind die Kosten für die Bewältigung der Flüchtlingskrise vergleichsweise gering, da wenige Flüchtlinge ins Land kommen.

Wenn die EU wesentliche Prinzipien opfert, um ihren nationalen Repräsentanten die Einhaltung von Wahlversprechen zu erleichtern, dann nimmt die Europäische Idee beträchtlichen Schaden. Bestehende Wahlversprechen gibt es auch in anderen Mitgliedsstaaten. Beim kommenden EU-Gipfel wird man das spüren.

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