Briten haben EU verlassen: "Der Vorhang hebt sich zu einem neuen Akt"
Nach den Endlos-Debatten im Unterhaus, den Millionenmärschen für ein zweites Referendum, zwei umkämpften Wahlen und zwei gescheiterten Premierminister-Karrieren ging der Brexit Freitagnacht ganz unspektakulär über die Bühne. In den zeitlosen Worten T. S. Eliots: „Auf diese Art geht die Welt zugrund. Nicht mit einem Knall: mit Gewimmer.“
In diesem Fall das leise Wimmern der Interessensgruppe für EU-Bürger in Großbritannien „The Three Million“, die sich in einer deutschen Bierschenke in London zu einer traurigen letzten Kneipentour verabredete. Schließlich traf sich die Ortszeit des Austritts exakt mit der traditionellen Sperrstunde in britischen Pubs um elf Uhr abends.
Gleichzeitig versammelten sich am Parliament Square die Brexit-Anhänger zur Jubelfeier, mussten sich dabei allerdings an die alkoholfreie Zone in den Straßen von Westminster halten. In der Downing Street wiederum gab es einen kleinen Empfang mit „informellen Drinks“ für die Mitarbeiter des Brexit-Ministeriums, das mit Beendigung seiner Aufgabe aufgelöst wird.
Ein praktisch unmögliches Vorhaben
Dabei ist die Arbeit für die britische Regierung keineswegs getan, beginnt mit dem Anbrechen der bis Jahresende anberaumten Übergangsfrist doch eine arbeitsintensive Periode, in der man gleichzeitig Freihandelsabkommen mit der EU, den USA, Japan und vielleicht auch noch China ausverhandeln will. Ein praktisch unmögliches Vorhaben, wie sich so gut wie alle Handelsexperten einig sind, aber einstweilen gehörte das Wort Premierminister Boris Johnson und seinem alle Gesetze der politischen Schwerkraft leugnenden Optimismus.
Als symbolische Geste hielt er gestern seine Kabinettssitzung nicht in London, sondern in der nordenglischen Leave-Hochburg Sunderland ab. Davor hatte der Premier bereits seine offizielle Rede an die Nation aufgezeichnet. Ungeachtet der nächtlichen Stunde ihrer Ausstrahlung sagte er darin: „Dies ist der Moment, da der Morgen anbricht und sich der Vorhang hebt zu einem neuen Akt.“
Jenes Schauspiel, das sich über die letzten dreieinhalb Jahre als Farce präsentierte, soll nun in Einigkeit sein würdiges Ende finden. Der Premier mied tunlichst das Wort „Brexit“ und versprach seinem Publikum stattdessen „eine neue Ära, in der wir nicht länger akzeptieren, dass Ihre Lebenschancen und die Ihrer Familie davon abhängen, in welchem Teil des Landes man aufwächst.“ Aufgabe der Regierung sei es, „dieses Land zusammenzuführen.“
Dabei hatte sich der britische Blätterwald am Brexit-Tag immer noch im Zeichen der tiefen Kluft zwischen zwei parallelen Welten präsentiert. „Unsere Zeit ist gekommen“, titelte The Sun, die Daily Mail widmete der „stolzen Nation“ eine fette Sonderausgabe. Der Daily Express triumphierte mit einem herzhaften „Yes, we did it!“ und brüstete sich im Blattinneren mit dem Erfolg des „größten Zeitungskreuzzugs“.
In freundschaftlicher Konkurrenz dazu beglückwünschte sich auch der konservative Daily Telegraph mit einer Extra-Beilage, die das Zustandekommen des Brexit ebenfalls als Verdienst der Zeitung auswies. Nicht ganz zu Unrecht hatte Boris Johnson doch bis zu seinem Amtsantritt als Kolumnist des einst seriösen Blattes regelmäßig die Grenzen zwischen journalistischer Distanz und politischem Interesse überschritten.
"Zuwendungen für Blonde!", fordert dieser blonde...
...Winston Churchill?
Eine Delegation der "Omas gegen Links" hat sich am Parliament Square in London versammelt.
Dieser Mann zeigt Flagge.
So mancher Befürworter ist extravagant gekleidet.
Auch brennende EU-Flaggen dürfen an Tagen wie diesen nicht fehlen.
Insofern man es schafft, sie anzuzünden...
Anstoßen in Downing Street
Der Guardian hingegen bildete eine mit einem Union-Jack-Wimpel geschmückte, feuchte Sandburg unter den weißen Klippen am Strand vor Dover mit der Überschrift „Small Island“ ab. Den Haupttreffer aber landete der Daily Mirror. Das brexit-skeptische Boulevardblatt überließ an diesem schicksalhaften Tag seine Titelseite einem Inserat der auf Gefrierprodukte spezialisierten Supermarkt-Kette Iceland, die mit dem Slogan „50 Jahre niedrige Preise“ ihr Firmen-Jubiläum beging. Ob beabsichtigt oder nicht, die Ironie, dass für britische Konsumenten nach 47 Jahren in der EU die Epoche der billigen Lebensmittel zu Ende gehen könnte, schwang dabei unüberhörbar mit.
Einstweilen darf sich Boris Johnson aber in seinem Moment der größten politischen Macht sonnen, ungehindert von einer gedemütigten Opposition, die den Frühling mit der Suche nach neuen Führungspersönlichkeiten verbringen wird. Labours derzeit aussichtsreichster Kandidat für Jeremy Corbyns Nachfolge, der EU-freundliche Jurist Keir Starmer, forderte immerhin das Wahlrecht für in Großbritannien lebende EU-Bürger, doch die Öffentlichkeit nahm davon kaum Notiz.
Vielleicht war es Johnson beim Anstoßen in der Downing Street ja auch selbst bewusst, dass er es nie wieder so leicht haben würde wie an diesem Tag. Cheers!
aus London: Robert Rotifer
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