Brexit: Ratlose Stammwähler in Tory-Hochburg
von Robert Rotifer
Großbritannien steuert auf Neuwahlen zu, und das Kalkül Boris Johnsons scheint klar: Mit einer kompromisslosen Brexit-Linie will er zugleich die Konkurrenz von Nigel Farages populistischer Brexit Party abfangen und angestammte Labour-Sitze im proletarischen Norden Englands erobern.
Die Frage ist bloß, was ein wesentlicher Teil seiner eigenen Kernwählerschaft von solch einem radikalen Programm hält: jene moderate, obere Mittelschicht, wohnhaft vorwiegend im Süden des Landes, die in wörtlicher Auslegung des Parteinamens immer schon konservativ gewählt hat, weil alles so bleiben soll, wie es ist.
Gutsituierte Leute in mittlerem bis gehobenem Alter, die Ferienhäuser in Frankreich haben, oder Kinder, die in guten Jobs auf dem Kontinent arbeiten. Wenn sie von den prognostizierten „No Deal“-Notfallplänen der „Operation Yellowhammer“ lesen, schäumen sie hinter Backsteinmauern und Ligusterhecken leise vor sich hin.
„Das war schon immer so“
Marlies Muir, 83, zog nach dem Krieg als Deutsche mit ihrem britischen Mann erst nach Burma, Südafrika, Kenia und schließlich in dessen Heimat. Heute wohnt sie in einer komfortablen Pensionistenwohnung in Canterbury in der südöstlichen Grafschaft Kent, direkt am idyllischen Flüsschen Stour. „Meine Freunde sind alle im selben Alter wie ich,“ sagt sie, „da gibt es schon den Gedanken: Was tut man, wenn man seine Medizin nicht kriegt?“
Jener Freundeskreis sei „zu 90 Prozent konservativ“, habe 2016 aber mehrheitlich für „Remain“ gestimmt. Bei Neuwahlen „würden einige vielleicht zu den Liberaldemokraten gehen“, mutmaßt Marlies. Sie selbst aber wohl kaum, denn „die Libdems sind leider unfähig. Gute Menschen mit wunderbaren Ideen, aber wenns drauf ankommt, ist denen nicht zu trauen. Das war schon immer so.“ Labour komme für sie ohnehin nicht in Frage. „Am Liebsten würde ich gar nicht wählen, aber das darf man auch nicht, das wäre gefährlich.“
Vielleicht sollten sich Johnsons Berater zur Warnung einmal ansehen, was bei den Wahlen 2017 in Marlies Muirs Heimatstadt Canterbury, einem ewig erzkonservativen Wahlkreis, geschah: Trotz seines Wahlpakts mit UKIP verlor dort der brexit-begeisterte konservative Kandidat seine Mehrheit an Labour – und das nicht bloß wegen der Stimmen der örtlichen Studenten. Auch ältere Semester fühlen sich durch die isolationistische Brexit-Politik der Regierung in ihren kosmopolitischen Kreisen gestört.
Zum Beispiel Stephen, der pensionierte Neurologe und Hobby-Segler, der sein Boot aus dem Mittelmeer zurück an die kühle Kanalküste bringen muss, weil er mit britischer Flagge künftig nicht permanent in EU-Häfen ankern dürfen wird. Sein belgischer Freund, Nachbar und Ex-Kollege Romain ist heuer, nach Jahrzehnten im britischen Gesundheitssystem, samt Familie zurück nach Brüssel gezogen. Genauso wie Ortwin, der beliebte deutsche Goldschmied, der nun die Zeit gekommen sah, nach Pforzheim heimzukehren.
„Den Brexit endlichdurchziehen“
In den drei Jahren seit dem Brexit-Referendum ist für Geschäftsinhaber das Leben in der alten Pilgerstadt nicht leichter geworden. In der Filiale der schicken französischen Boutiquenkette „Antoine & Lili“ wird alles zum halben Preis verkauft, der Laden bleibt an diesem Nachmittag trotzdem menschenleer.
Verkäufer Valentin, selbst Franzose, „hasst“ zwar den Brexit, meint aber: „Die sollen das endlich durchziehen. Denn was wir jetzt haben, ist nichts, und mit nichts kann man nichts anfangen“, philosophiert er: „Sie sehen ja, niemand kauft. Die Touristen kommen nicht, und Kunden, die im Ausland investiert haben, wollen nichts ausgeben, weil sie nicht wissen, was auf sie zukommen wird.“
„Danke, uns geht es blendend“
Richard, ein Mann im besten Rentneralter, der gleich gegenüber vom Kathedralentor seit Jahrzehnten seine Töpferkunst verkauft, hat eine ganz konträre Sicht der Dinge: „Uns geht es blendend, Danke der Nachfrage. Wegen des niedrigen Pfundkurses (1 Pfund = 1,12 Euro, Anm.) können sich die Europäer mehr leisten. Dazu kommen jetzt noch Engländer, die lieber Kurzurlaub im eigenen Land machen, als ins teure Ausland zu fahren.“
Er selbst habe 2016 für einen Verbleib in der EU gestimmt, seine Frau hingegen für den Austritt. Ein vielsagendes Augenrollen: „Wir sind eine Demokratie und müssen uns danach richten, was die Mehrheit sagt.“ Im Fall von „No Deal“ werde das Land „ärmer werden, und die Preise werden steigen“.
Würde er Boris Johnson dafür verantwortlich machen und sein Wahlverhalten ändern? „Eine sehr schwierige Frage“, sagt Richard. Schließlich fänden Neuwahlen nun ja mit Sicherheit erst nach der Brexit-Deadline am 31. Oktober statt. „Und keiner weiß, was bis dahin passiert. Wir kleinen Leute finden uns mit allem zurecht, was über uns entschieden wird.“
„Auf die Jungen kommt es an“
„Ich habe das Glück, gesund zu sein“, tröstet sich indessen Marlies Muir, „und wenn es kein Essen gibt, geh ich auf die Wiese und hol mir Pilze, das haben wir alles schon gemacht. Sie sollten die jungen Leute fragen, was die denken. Das sind die, auf die es ankommt.“
Die Wahlarithmetiker werden da anderer Meinung sein. Boris Johnson täte gut daran, seine stille Kernwählerschaft nicht für selbstverständlich zu nehmen.
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