"Es wurde über Jahrzehnte gelogen"

Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker und sein Vize Frans Timmermans (re.) werfen britischen Politikern vor, die EU immer verzerrt und als Übel dargestellt zu haben.
Kommissionschef Juncker rechnet mit Briten ab. Abgeordnete gehen von Verbleib Britanniens in der EU aus.

Von Brexit-Blues ist im Europäischen Parlament nichts zu merken. Das zeigte am Dienstag eine rege Debatte in Straßburg. Viele Abgeordnete der Mitte-Parteien rechnen damit, dass der Austritt Großbritanniens aus der EU niemals kommen werde, der Exit vom Brexit sei eine realistische Option. Elmar Brok (CDU), der sehr einflussreiche Vorsitzendes des Außenpolitischen Ausschusses und enge Vertraute von Bundeskanzlerin Angela Merkel, ist dabei vorgeprescht: "Die Abstimmung in Großbritannien über den Brexit war nur ein beratendes Referendum und für die britische Regierung nicht bindend", sagte Brok.

Großbritannien müsse sich jetzt entscheiden, ob es austreten wolle oder nicht. "Entweder will die britische Regierung den Status eines EU-Mitglieds beibehalten, oder sie stellt einen Antrag auf Austritt." Informelle Verhandlungen mit den Briten, bevor sie einen Antrag gestellt haben, werde es jedenfalls nicht geben.

In Österreich geht Finanzminister Hans Jörg Schelling (ÖVP) davon aus, dass Großbritannien Mitglied der EU bleibt, erklärte er in einem Interview mit dem Handelsblatt (Dienstag-Ausgabe).

"Ich zweifle, dass der Austrittsantrag je gestellt wird", glaubt auch die grüne Vizepräsidentin des Parlaments, Ulrike Lunacek.

EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker wollte auf die Möglichkeit des britischen Rückzuges aus dem Referendumsergebnis nicht eingehen. Er hielt den britischen Eliten einen Spiegel vor: "Es wurde in Großbritannien über Jahrzehnte gelogen, das Resultat ist jetzt da". Mehr als vier Jahrzehnte sei den Briten erklärt worden, welches Übel die EU sei. Für die klaren Worte Junckers gab es viel Applaus.

Aber was ist realistisch, nachdem knapp 52 Prozent für den EU-Austritt votiert haben und die wortmächtigen Brexit-Befürworter Boris Johnson und Nigel Farage zurücktraten und in Großbritannien Chaos herrscht?

Darf das britische Parlament das Votum der Bürger ignorieren?

Ja. Die Volksbefragung war nicht rechtsverbindlich. Das Referendumsergebnis ist eine "Empfehlung", heißt es im britischen Unterhaus. Die Abgeordneten, die mehrheitlich für den EU-Verbleib sind, könnten noch einmal abstimmen und beschließen, Artikel 50 des EU-Vertrages nicht zu aktivieren.

Darf das britische Parlament ein neues Referendum einleiten?

Ja. Das Parlament kann jederzeit ein neues Referendum einleiten und ein entsprechendes Gesetz verabschieden. Bisher galt als sicher, dass sich Abgeordnete dem Mehrheitswillen beugen – zum Beispiel den 52 Prozent, die für den Brexit votiert haben. Aber: Derzeit nimmt der Druck der Brexit-Gegner zu. Millionen haben eine Petition für ein zweites Referendum unterschrieben. Viele Menschen gehen auf die Straße und demonstrieren für den Verbleib in der EU.

Muss die Londoner Regierung das Parlament fragen, ob Artikel 50 aktiviert werden darf?

Ja, meinen Juristen in London und Brüssel. Die Regierung brauche die Zustimmung des Parlaments, den Austrittsantrag nach Brüssel zu schicken: "Das Parlament hat stets das letzte Wort", so der Tenor der Rechtsexperten.

Was können Neuwahlen im Vereinigten Königreich bewirken?

Sehr viel. Die Suche nach dem Nachfolger bzw. der Nachfolgerin von David Cameron ist im Gange, der neue britische Premier könnte Neuwahlen ausrufen. Wenn zum Beispiel die Labour-Partei in ihrem Programm den Exit vom Brexit festschreibt und gewinnen würde, dann könnte man den Rückzug vom Referendum als politisch legitimiert betrachten.

Hat Großbritannien die Chance auf neue Sonderregelungen mit der EU?

Nein. Entweder die Scheidung wird vollzogen, oder Großbritannien bleibt zu den derzeitigen Bedingungen inklusive des im Februar vereinbarten Deals – weniger Sozialleistungen für EU-Ausländer – in der EU.

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