Staatschef Morales "kontrolliert alles"
Von 2003 bis 2005 war er Staatsoberhaupt Boliviens und damit das letzte reguläre vor dem seither regierenden Evo Morales. Vor der am Sonntag stattfindenden Präsidentenwahl, zu der Morales neuerlich antritt und wohl gewinnen wird, zeichnet Carlos Mesa vor österreichischen Journalisten ein differenziertes Bild der Performance des ersten Indigenen an der Spitze des Andenstaates.
KURIER: Wie beurteilen Sie die Amtszeit von Evo Morales?
Carlos Mesa: Es ist eine der längsten Regierungsperioden in der Geschichte des Landes. Positiv ist es, einen indigenen Präsidenten zu haben.
Aber was hat er gut gemacht?
Bolivien erlebt die beste wirtschaftliche Entwicklung in seiner ganzen Geschichte. Das Wachstum des Landes (in den vergangenen Jahren durchschnittlich fünf Prozent) ist beachtlich, und damit gab es auch einige wichtige Erfolge im Kampf gegen die Armut. Aber das alles passiert nicht wegen der Aktivitäten der Regierung, sondern weil die Preise für Rohstoffe, die Bolivien exportiert (allen voran Gas), auf dem Höchststand sind. Zudem strebt Morales eine Gesellschaft mit mehr Gleichberechtigung und weniger Diskriminierung an.
Und die Schattenseiten?
Wir haben einen zu autoritären Präsidenten, alles ist auf seine Person fokussiert. Und die Gewaltenteilung funktioniert nicht mehr. Er (Morales) kontrolliert alles – die Regierung, das Parlament, die Justiz und sogar die Wahlbehörde. Es ist nicht gesund für eine Demokratie, wenn es eine Hegemonie einer Partei gibt.
Also ist Bolivien keine Demokratie mehr?
Nein, es wäre nicht gerecht zu sagen, dass wir in einer Diktatur leben. Unzweifelhaft hat der Präsident zwei Wahlen auf transparente Weise gewonnen. Allerdings finde ich eine unbegrenzte Wiederwahl nicht demokratisch, und es entspricht nicht der Verfassung.
Die Wahlbehörde ermöglichte ihm ein drittes Antreten. Ist die Behörde unabhängig?
Ich bezweifle das (die dritte Kandidatur Morales’ wurde erst durch eine Verfassungsinterpretation möglich; Anm.).
Was ist mit der Opposition?
Bolivien hat nicht wirklich eine Mehrparteienlandschaft.
Warum?
Die Opposition hat keinen Zugang zu den staatlichen Kommunikationsmedien, wie Fernsehen oder Radio, die die Regierung für ihre Propaganda benützt. Dazu kommt, dass sich die Opposition wegen der guten wirtschaftlichen Entwicklung schwertut, einen politischen Diskurs zu führen. Umgekehrt ist sie nicht fähig, Mechanismen zu schaffen, um die Regierung herauszufordern.
Und den Menschen gefällt der autoritäre Stil?
Die Bevölkerung akzeptiert den Präsidenten, weil er eine große symbolische Bedeutung hat. Es ist das erste Mal, dass ein Indigener das wichtigste Amt im Staat innehat. Dieses symbolische Element ist von außerordentlicher Bedeutung (in einem Land, in dem die Mehrheit indigen ist). Verglichen mit der guten Wirtschaftslage ist den Menschen die schwache demokratische Institutionalisierung nicht so wichtig.
In der neuen Verfassung von 2009 ist das Prinzip des "vivir bien" festgeschrieben. Was bedeutet "gut leben" in Bolivien?
Ich glaube, dass es ein Konzept ist, das versucht, traditionelles indigenes Gedankengut wieder aufleben zu lassen. In der Theorie eine bessere Einheit zwischen Mensch und Natur.
Vor einiger Zeit gab es massive Spannungen zwischen dem eher reichen Flachland und dem ärmeren Hochland. Sogar von Spaltung war die Rede. Wie ist der Stand derzeit?
Dieses Thema ist überwunden. Ich würde sagen, dass das, was gerade in Schottland oder Katalonien passiert, problematischer ist.
Morales ging auch auf scharfen Konfrontationskurs zur katholischen Kirche im Land. Wie ist die Lage derzeit?
Die jetzige Regierung ist diejenige, die am härtesten gegen die katholische Kirche vorgegangen ist. In Bolivien hat die Kirche nicht nur eine spirituelle und soziale Funktion, sondern auch eine politische. Derzeit sind die Beziehungen aber stabil.
Bolivien wird vorgeworfen, den Drogenhandel zu wenig zu bekämpfen. Was läuft falsch?
Meiner Ansicht nach ist der weltweite Kampf gegen den Drogenhandel komplett gescheitert und muss auf radikale Weise geändert werden. Es ist an der Zeit, dass Europa und die USA ihre diesbezügliche Politik neu formulieren.Wir müssen eine gemeinsame Vision entwickeln – ohne dass eine Kriminalisierung des Drogenkonsums passiert. Dazu muss man analysieren, ob in Bezug auf weiche und harte Drogen gleich vorgegangen werden soll.
Wie lange wird es Präsident Morales in Bolivien noch geben?
(Lacht) Wenn man ihn fragte, so würde er wahrscheinlich antworten, dass es ihm gefiele, auf Dauer die Regierung zu stellen. Um das zu schaffen, müsste er die Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament (für eine Verfassungsänderung) erreichen. Ich habe meine Zweifel, dass das passieren wird.
Wollen Sie selbst wieder in den Präsidentenpalast einziehen?
Nein, ich will glücklich leben.
Carlos Mesa: Biografie
Herkunft Carlos Diego Mesa wurde 1953 in La Paz geboren. Er studierte Geschichte und arbeitete als Historiker und Journalist.
Politik Als Vize von Präsident de Lozada kam Mesa 2003 an die Staatsspitze, nachdem dieser wegen einer blutigen Niederschlagung eines Aufstandes zurückgetreten war. Unter anderem schuf Mesa ein Ministerium für indigene Angelegenheiten. Bei der Wahl 2005 siegte Evo Morales.
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