Bolivien: Evo Morales vor Wiederwahl

Der erste indigene Staatschef krempelt das Land autoritär um und punktet vor allem bei den ärmeren Schichten.

Sind die Dinger auch wirklich sicher?", fragt der Familienvater den KURIER-Reporter, nachdem er erfahren hat, dass dieser aus Österreich stammt. Das "Ja" beruhigt den besorgten Mann – er testet mit seinen beiden Söhnen gerade die neu eröffnete, gelbe Seilbahn-Linie, die das Zentrum der bolivianischen Metropole La Paz mit der auf 4000 Metern gelegenen Stadt El Alto verbindet, spektakuläre Blicke auf die nahe 6000er-Anden-Kette bietet und von dem Vorarlberger Unternehmen Doppelmayr errichtet wurde.

Die rote Linie ist bereits seit Mai in Betrieb, die grüne folgt dieser Tage. Die insgesamt 10,4 km sollen den Verkehr in den verstopften Straßen entlasten. Tatsächlich verkürzt die gelbe Linie die Fahrzeit um bis zu einer Dreiviertelstunde auf 15 Minuten. Vor allem aber ist das Seilbahnnetz, mit dem in der Stadt 1300 Höhenmeter überwunden werden, das Prestige-Projekt von Staatschef Evo Morales, der heute zur Wiederwahl antritt.

Ankunft auf der "Bergstation" Mira Dor (Aussichtspunkt), die noch ein Provisorium ist, aber rechtzeitig zum Urnengang fertig werden musste: "Con tu somos MAS" ist auf der angrenzenden Plaza auf einem riesigen Transparent neben einer schematischen Abbildung der Seilbahn und einem Porträt des Präsidenten zu lesen – "Mit Dir sind wir mehr", wobei das spanische Wort für mehr (mas) gleichzeitig auch die Abkürzung der Morales-Partei "Movimiento al Socialismo" (MAS) ist.

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Evo, wie das Staatsoberhaupt im ganzen Land genannt wird, war während des Wahlkampfes allgegenwärtig. Im öffentlichen Fernsehen glichen die Nachrichten halbstündigen MAS-Werbeeinschaltungen, sogar im Sportstudio trat der frühere Koka-Bauer auf. An seinem neuerlichen Wahlsieg nach 2005 und 2009 gibt es keinen Zweifel.

Sehr wohl aber an seiner demokratischen Gesinnung. "Er agiert autoritär", sagt der frühere Präsident Carlos Mesa (2003-2005) im Gespräch mit österreichischen Journalisten. Ähnlich sieht das Juan Carlos Salazar del Barrio, Chefredakteur der Zeitung Pagina Siete, eines der letzten verbliebenen unabhängigen Medien: "Es ist absolut problematisch, dass der Staatschef die Regierung, das Parlament, die Justiz und sogar die Wahlbehörde kontrolliert", so der Blattmacher, der von einem stark gestiegenen Druck auf Journalisten berichtet: "Einmal hat Evo öffentlich unsere Zeitung hochgehalten und gemeint: ,Das ist der Feind des Volkes‘." Der Präsident akzeptiere keine Kritik und sehe alles nur schwarz-weiß, entweder Freund oder Feind.

Jeder Zweite in Armut

Bisher ist die Rechnung aufgegangen: 90 Prozent der Medien sind gleichgeschaltet, die Opposition ist schwach bis inexistent, und die Armen, zu denen fast jeder zweite Bolivianer zählt, stehen fest hinter "ihrem" Evo. Letzteres hat vorrangig einen Grund: Vor allem mit dem Verkauf von Erdgas (der Andenstaat hat die drittgrößten Reserven Südamerikas) konnten in den vergangenen Jahren Wirtschaftswachstumsraten von fünf Prozent erzielt werden. Das ermöglichte der Regierung Sozialprogramme auf die Beine zu stellen. Laut UNO sank allein zwischen 2005 und 2009 der Anteil der Ärmsten um zwölf Prozent. Das ändert freilich nichts daran, dass Hunderttausende Kinder arbeiten müssen, um das Familieneinkommen aufzubessern – und das nach einem neuen Gesetz unter bestimmten Bedingungen ganz legal schon ab dem 10. Lebensjahr.

Bolivien: Evo Morales vor Wiederwahl
Auf der einfachen Lehmhütte der Familie Renfijo weht die blau-schwarze MAS-Fahne im beißend kalten Wind des kargen Hochlandes. Hier stellt die Lama- und Alpaca-Zucht die einzige Einnahmequelle dar. In der Heimatgemeinde der Renfijos, San Pedro de Totora, vier Autostunden südlich von La Paz, hat der Präsident ein Heimspiel. Der älteste Sohn des Hauses, der 24-jährige Ramiro, erläutert, warum: "Früher war unser Dorf vernachlässigt. Erst mit Evo kamen die Straße, der Strom und der Handy-Empfang", so der Angehörige des indigenen Volkes der Aymara, dem auch der Präsident angehört. Für guten Wind bei dieser Wahl sollen in der Kommune jetzt auch eine neue Veranstaltungshalle sowie ein Fußballplatz mit Kunstrasen sorgen. Motto: Wenig Brot, aber immerhin Spiele.

Bleibt Evo bis 2025?

Mit derartigen Akzentsetzungen will der erste indigene Staatschef des Landes (mehr als die Hälfte der Bevölkerung ist indigen) den "Cambio", den Wandel, fortführen. Diesen lässt er im ganzen Land plakatieren. Und diesen Wandel will er, mutmaßen politische Beobachter, noch bis 2025 prägen. Da feiert Bolivien 200 Jahre Unabhängigkeit von den Spaniern.

Dass dafür die verfassungsmäßige Basis fehle, wie bereits bei der jetzigen, dritten Kandidatur von Evo Morales, stelle wohl kein echtes Hindernis für den 55-Jährigen dar, meint Chefredakteur Salazar del Barrio: Das Staatsoberhaupt, das mit seinem österreichischen Amtskollegen Heinz Fischer gut befreundet ist, werde Mittel und Wege finden. Denn Politiker generell und Evo im Besonderen seien "wie Boxer – sie geben nie auf."

Die Kugel in Santiago Villcas linker Backe wächst beständig. Ohne Unterlass stopft er sich getrocknete Koka-Blätter von seiner bunten Brusttasche in den Mund und formt sie mit seinem Speichel zu einer grünen Masse, die er zwischen Kiefer und Wangeninnenseite platziert. Eine Stunde lang dürfen die nach Kräutertee schmeckenden Blätter dort ihre Wirkung entfalten: „Koka stimuliert, weckt auf, stillt den Hunger und ist gut beim Arbeiten“, sagt der Agrarökonom.
So wie er greifen die meisten Bolivianer zu dieser Droge, die auch bei Ritualen der Indigenen zum Einsatz kommt. Und das ganz legal – Dank Präsident Evo Morales, einem früheren Koka-Bauern. „Coca si, cocaina no“ (Koka ja, Kokain nein), lautet sein Credo. Deswegen darf in dem Andenstaat auf 12.000 Hektar der Kokain-Ausgangsstoff angepflanzt werden.
Das Problem dabei: Im Vorjahr wurde noch immer auf einer Fläche von 23.000 Hektar Koka angebaut. Das ist laut UNO zwar ein Rückgang im Vergleich zu 2012 um neun Prozent, dennoch ist Bolivien nach Kolumbien und Peru weiter der drittgrößte Koka-Produzent weltweit, zwölf Prozent der Agrarproduktion des Landes entfallen auf diesen Zweig. Und ein Gutteil davon landet als Kokain auf den Party-Tischen wohlhabender Amerikaner und Europäer.

Die erst vor vier Jahren gegründete Zeitung Pagina Siete gehört zu den wenigen unabhängigen Medien Boliviens – hat aber im Land des Evo Morales einen schweren Stand. „Der Präsident und sein Vize stellen unsere kritische Berichterstattung und unsere Kommentare immer wieder öffentlich an den Pranger“, klagt Chefredakteur Juan Carlos Salazar del Barrio im Gespräch mit österreichischen Journalisten in der Metropole La Paz.
Dieses Kesseltreiben habe einmal fast schon in Gewalt gemündet. „Wir haben einen Korruptionsskandal der regierungsnahen NGO ,Ponchos Rojos’ (Rote Mäntel) aufgedeckt. Daraufhin hat die Organisation gedroht, unsere Redaktionsräume zu besetzen“, schildert der Blattmacher, der sagt, dass nur noch zehn Prozent aller Medien des Landes als unabhängig einzustufen seien.
Neben den Verbalattacken und der Verweigerung des Präsidenten, Pagina Siete Interviews zu geben, beklagt Salazar del Barrio die finanzielle Aushungerung der Zeitung durch die Machthaber: „In ganz Lateinamerika ist der Staat ein zentraler Akteur in der Medienlandschaft – durch Werbeeinschaltungen. Wir erhalten keine einzige, kommen aber irgendwie über die Runden.“
Für die Zukunft ist der Chefredakteur pessimistisch. „Wir haben zwar Pressefreiheit, sonst gäbe es uns ja gar nicht, aber die größte Gefahr ist die Tendenz der Journalisten und Zeitungsverantwortlichen zur Selbstzensur“, weil der Druck auf die Medien seit dem Amtsantritt von Evo Morales (2006) ständig gestiegen sei.

Der Vollwaise Mauro Murga hatte und hat es nicht leicht in seinem Leben. Der Zwölfjährige lebt in der bolivianischen Metropole La Paz im Koordinationszentrum von „Wiphala“, einer NGO, die sich um arbeitende Kinder kümmert. Mauro ist einer dieser minderjährigen „Hackler“, zu denen in dem Andenstaat Hunderttausende zählen.
Vormittags drückt er brav die Schulbank, nachmittags geht’s ans Geldverdienen. „Ich versuche durch lautes Ausrufen des Zieles Gäste für die diversen Minibusse zu gewinnen. Ist einer voll, bekomme ich dafür einen Boliviano“, sagt der Bub. Wenn er es auf zwölf „Silberlinge“ bringt, sei das schon sehr gut, das sind umgerechnet 1,5 Euro. Und für seine Wochenendschicht in einer Tischlerei (Samstag, Sonntag jeweils von 8 bis 16 Uhr) erhält der Zwölfjährige immerhin 180 Bolivianos, 25 Euro.
Nach einer Gesetzesänderung im vergangenen Juli schuftet Mauro ganz legal. Denn gemäß dieser dürfen Kinder ab dem zehnten Lebensjahr als „selbstständige“ Bus-Schreier, Schuhputzer oder Straßenverkäufer unter der Voraussetzung arbeiten, dass die Behörden den Schulbesuch kontrollieren. Unter diesen Bedingungen kann es auch zu regulären Anstellungsverhältnissen von Zwölfjährigen kommen.


Eine Million Kinderarbeiter

Das steht zwar im Widerspruch zur Konvention der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), die Kinderarbeit für Unter-14-Jährige verbietet und von Bolivien 1997 unterzeichnet wurde. Doch das kümmert Präsident Evo Morales wenig, der sich selbst in frühen Jahren als Straßenmusiker mit Trompete verdingte.
International hagelte es Kritik an der Novelle, im Land selbst versteht man die Aufregung mehrheitlich nicht. „Wir können doch nicht die Augen vor der Realität verschließen, wir leben in keinem Wunderland. Eine Million Kinder und Jugendliche (der insgesamt zehn Millionen Bolivianer; Anm.) arbeiten – im Schnitt fangen sie im Alter von sieben Jahren an“, sagt Deivid Pacosillo Mamani, der als Minderjähriger ebenfalls das Einkommen seiner Familie aufbessern musste. Ziel der neuen Legislatur sei es, so der 25-Jährige, der selbst an der Erstellung des Gesetzestextes mitgewirkt hat, durch klare Rahmen, jede Form der Ausbeutung zu verhindern – bei gleichzeitiger Anerkennung der gängigen Praxis. Jetzt gehe es darum, den neuen Ansatz im Alltag mit Leben zu erfüllen und schwarze Schafe unter den Unternehmern zu bestrafen.

Auch die 17-jährige Reyna Ticona ist gegen ein absolutes Verbot von Kinderarbeit. Sie begann im Alter von neun Jahren, zuerst als Babysitterin, dann als Küchenhilfe, Kellnerin und als Näherin. Der Grund: „Meine Mutter ist gestorben, und mein Vater verdiente nie genug, um uns durchzubringen“, sagt die junge Frau. Die Schule habe sie nie vernachlässigt, die Tortur machte sich schlussendlich doch bezahlt: Reyna wird demnächst maturieren.

Die Erfolgsstory dieser starken, jungen Frau ist beachtlich. Viele andere Kinder-Arbeiter sind einem solchen Druck aber weniger gewachsen und enden als mies bezahlte Hilfskräfte oder, noch schlimmer, als Kriminelle im Gefängnis beziehungsweise als Prostituierte auf der Straße. Das war vor Inkrafttreten des neuen Gesetzes, wird aber auch jetzt so sein.

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