Berlin nimmt Schlepper ins Visier

Innenminister Friedrich bremst Rufe nach mehr Aufnahme von Wirtschaftsflüchtlingen.

Die Tragödie der mindestens 330 vor dem Hafen von Lampedusa ertrunkenen Afrikaner beschäftigt nicht nur Rom und Brüssel. Auch das traditionell in der EU-Innenministerkonferenz dominante Deutschland diskutiert über die politischen Folgen.

Zu denen, die eine großzügigere Aufnahme von Wirtschaftsflüchtlingen fordern, gehören der deutsche Präsident des EU-Parlaments, der Sozialdemokrat Martin Schulz, und SPD-Chef Sigmar Gabriel. Der sprach von einer „Riesenschande für Europa“ und verlangte, den Flüchtlingsstrom nach Lampedusa „gerechter in Europa zu verteilen“.

Auch in der CDU wird die Forderung nach Reaktionen lauter: Julia Klöckner, CDU-Chefin von Rheinland-Pfalz und Parteichefin-Stellvertreterin von Kanzlerin Merkel, forderte einen „EU-Einwanderungs-Gipfel“: „Wie es ist, kann es nicht bleiben“. Ihr Kollege in Baden-Württemberg, Thomas Strobl, will das Thema „mittelfristig auf die Agenda“ setzen. Andere Unions-Spitzenpolitiker warnen davor. Der Chef des Bundestagsinnenausschusses Wolfgang Bosbach (CDU): „Wir sollten unsere Flüchtlingspolitik nicht überstürzt verändern“, Deutschland nehme „schon jetzt mehr Flüchtlinge auf als die Anrainerstaaten des Mittelmeers“.

„Afrika einbeziehen“

Das betonte auch Innenminister Hans-Peter Friedrich (CSU): „Der Vorwurf, dass sich Europa abschottet, ist falsch. In den vergangenen zwei Jahren sind durch gemeinsame europäische Grenzpolizei-Einsätze fast 40.000 Menschen aus Seenot gerettet worden. Deutschland allein hat heuer schon 80.000 Flüchtlinge aufgenommen.“

Friedrich zum KURIER: „Die Bilder und Berichte von den Opfern aus dem Mittelmeer haben uns alle sehr erschüttert. Ich glaube, dass die Europäische Union, aber auch die Mitgliedsstaaten nicht tatenlos zuschauen dürfen. Ich habe seit Monaten gefordert, eine Europäische Flüchtlingskonferenz im Hinblick auf die syrischen Flüchtlinge einzuberufen.“ Darin sollte man nun die afrikanischen Staaten einbeziehen.

„Zum Zweiten muss es darum gehen, dass wir die Seenotrettung im Mittelmeer nachhaltig verbessern“, so Friedrich, der gute Chancen hat, sein Amt in der nächsten Koalition weiter auszuüben.

Perspektiven

„Und schließlich geht es darum, dass wir auch vor Ort – in der Heimat dieser Menschen, in Afrika selbst, die Lebenssituation der Menschen mit Perspektiven versehen, so dass sie sich nicht gezwungen sehen, ihre Heimat zu verlassen.“ Das gelte auch für die Binnenflüchtlingssituation in Afrika selbst.

Friedrich will stattdessen gegen die skrupellosen Schlepper vorgehen: „Fest steht, dass wir noch stärker die Netzwerke organisierter und ausbeuterischer Schleuserkriminalität bekämpfen müssen“. Die „Schleuser-Verbrecher“ seien es, „die die Menschen mit falschen Versprechen in Lebensgefahr bringen und oft in den Tod führen“.

Dafür brauche es einen „Frühwarn- und Krisenbewältigungsmechanismus in Europa“. Defizite in den Systemen der Mitgliedstaaten müssten erkannt und behoben werden, so der Innenminister in der Welt.

In Deutschland steigt heuer die Zahl der Asylanträge wohl auf das höchste Niveau seit 1997, sie ist im Vergleich zum Vorjahr um 70 Prozent höher. Die meisten der bisher 75.000 Anträge kamen aus Balkanländern und Tschetschenien.

Durnwalder rügt Wien

Unterdessen fordert Südtirols Landeshauptmann Luis Durnwalder von Österreich mehr Toleranz gegenüber Flüchtlingen, die von Italien über den Brenner nach Deutschland reisen. Allein im September seien 350 von Österreichs Polizei zurückgeschickt worden. „Der Flüchtlingsnotstand ist keine rein italienische Angelegenheit und sollte auf europäischer Ebene gelöst werden“, so Durnwalder.

Nach der Flüchtlingstragödie vor Lampedusa werden – wieder einmal – Rufe laut nach Änderungen in der europäischen Flüchtlingspolitik. Beim Treffen der EU-Innenminister am Dienstag soll es eine erste Diskussion über mögliche Gesetzesänderungen geben. Man wolle unter anderem beraten, „welches EU-Recht geändert werden muss und welche Solidarsysteme aufgebaut werden müssen“, sagt EU-Justizkommissarin Viviane Reding.

Die große Frage ist: Soll es eine Vergemeinschaftung der Flüchtlingspolitik geben?

„Gerechte Verteilung“

Berlin nimmt Schlepper ins Visier
Ja, sagt Parlamentspräsident Martin Schulz in derBild-Zeitung: „Es ist eine Schande, dass die EU Italien mit dem Flüchtlingsstrom aus Afrika so lange allein gelassen hat.“ Man müsse angesichts der Flüchtlingsströme nach Europa über eine gerechtere Verteilung der Lasten nachdenken. In diese Richtung stößt auch der deutsche EU-Kommissar Günther Oettinger: „Die Frage ist, ob Italien alleine in der Lage ist, diese Außengrenze kompetent, aber auch menschengerecht zu sichern und zu handeln – oder ob es eines Mechanismusses für die Verteilung von Flüchtlingen bedarf.“

In der Praxis würde das nicht weniger als eine 180-Grad-Wende in der EU-Flüchtlingspolitik bedeuten.

Denn Grenzschutz ist in der EU Sache der Nationalstaaten. Hilfe aus Brüssel gibt es nur, wenn die Länder sie anfordern: So hat die EU-Grenzschutzagentur Frontex in den vergangenen Jahren beispielsweise Griechenland dabei geholfen, seine Außengrenze zur Türkei besser zu sichern. Auch in Lampedusa war Frontex schon im Einsatz.

In der Asyl-Politik gibt es zwar gemeinsame Regeln – aber auch die gehen eher zulasten der „äußeren“ EU-Staaten: Geregelt ist, dass Asylverfahren in jenem Land stattfinden müssen, in dem der Asylwerber die Union betritt. EU-Diplomaten halten es für unwahrscheinlich, dass sich an dieser „Dublin II“-Verordnung in absehbarer Zukunft etwas ändern könnte.

Insgesamt lässt sich die EU-Politik gegenüber Flüchtlingen in die Kategorie „Boot voll, Grenzen dicht“ zusammenfassen, wie ein Diplomat sagt: „Getan wird vor allem viel für die Sicherung der Außengrenzen. Und für jene, die diese überwinden, will dann möglichst niemand zuständig sein.“

Dahinter steckt auch die simple Erkenntnis, dass Europa all jene, die hierher wollen, in seine Wohlfahrtsstaaten nicht aufnehmen kann oder will – nüchtern betrachtet wohl beides.

Tragödien wie jene vor Lampedusa rufen die immer gleiche Abfolge politischer Reflexe hervor. Zuerst treten die Mahner auf den Plan, die Europa und seiner Asylpolitik die Schuld an den Toten geben, ihnen folgen mit betretener Miene die EU-Pragmatiker, die eine Reform dieser Politik versprechen und diese Reform schließlich über Wochen und Monate breit- und zuletzt zerreden. Ein ernüchternder, aber unvermeidlicher Ausgang der Diskussion.

Man mag der EU-Bürokratie vieles vorwerfen, doch dass unser Asylrecht dem Ansturm aus Afrika und Zentralasien niemals gerecht werden kann, liegt nicht an ihrem Versagen. Europas Sozialsysteme sind für ungeregelte Zuwanderung nicht geschaffen. Sie würden daran kollabieren. Es hat also keinen Sinn, eingezwängt zwischen Rechtspopulisten, die aus Fremdenhass Kapital schlagen, und Weltverbesserern, die offene Grenzen fordern, Lösungen zu suchen. Aus dieser Verlegenheit entsteht zuletzt nur Verlogenheit, wie jene unseres Asylrechts. Zehntausende werden durch ein System geschleust, das für Kriegsflüchtlinge, aber nicht für Arbeitsmigranten gemacht ist.

Natürlich braucht Europa Zuwanderung, und seine Politiker müssen ohne schlechtes Gewissen klarmachen, welche Zuwanderer wir brauchen – und welche nicht. Europa mag das politische und soziale Desaster in vielen Staaten Afrikas mitverursacht haben, aber mit offenen Grenzen werden wir diese Schuld nicht begleichen. Zuwanderungspolitik ist keine Frage der Moral, sondern wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten in unseren Staaten. Erst wenn wir dazu stehen, können wir den Menschen, die bei uns ein besseres Leben suchen, offen gegenübertreten.

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