Quer durch Häuser, Büros und Geschäfte verlaufen in Baarle die Grenzen. Die Bewohner der Kleinstadt sehen das entspannt. Nur Corona machte das Zusammenleben plötzlich kompliziert
„Corona hat uns mit einem Schlag weltberühmt gemacht“, erzählt Willem van Gool gut gelaunt. Im kleinen Tourismusbüro seiner Heimatstadt Baarle, wo der 70-Jährige ehrenamtlich die Gäste informiert, gaben einander plötzlich Reporter aus der ganzen Welt die Klinke in die Hand. „Einer war sogar aus Australien“ – es erheitert den Pensionisten noch immer. Denn „für uns hier ist das normal“ sagt er. Fremde hingegen dürften Baarle wohl als die seltsamste Kleinstadt der Welt ansehen.
Der grenznahe Ort mit seinen knapp 9.000 Einwohnern liegt eigentlich in den Niederlanden. Doch darin liegen 22 Stücke Belgien (Enklaven). Und um alles noch so richtig kompliziert zu machen: In diesen belgischen Enklaven befinden sich wiederum acht niederländische Enklaven. Die für Außenstehende völlig undurchschaubaren Grenzen ziehen sich quer über Felder, Häuser, Straßen, sogar mitten durch Wohnungen. So weit – so alt, denn dieses Grenzwirrwarr hält sich mit kurzen Unterbrechungen schon seit mehr als 800 Jahren.
Dann kam Corona
Doch dann kam Corona – und plötzlich wurde es so richtig schräg: Belgien verhängte in der ersten Welle einen extrem strengen Lockdown, während die Niederlande zunächst viel lockerer vorgingen. „Das hat dazu geführt, dass die Menschen auf der einen, also der belgischen Seite der Straße, Masken tragen mussten, und die auf der anderen Seite nicht“, schildert der Bürgermeister des belgischen Stadtteils Baarle-Hertog, Frans de Bont. „Aber Regeln müssen befolgt werden“, mahnt er. Dabei war es für die 2.700 belgischen Bewohner der Stadt besonders hart zu schlucken, dass sie nur Lebensmittel und Medikamente einkaufen durften, während ihren niederländischen Nachbarn alle Geschäfte offen standen und sie weiter ins Restaurant gingen.
Kurioser Höhepunkt dieser verzwickten Lage: In einem Geschäft, wo die Grenze mitten durchgeht, durften nur Waren von der niederländischen Seite gekauft werden. Wer Strümpfe gebraucht hätte, die auf der belgischen Seite des Geschäfts lagen, hatte eben Pech gehabt.
Ein paar Corona-Wellen später haben sich die widersprüchlichen Vorgaben mehr oder weniger angeglichen. Es ist fast wieder alles beim Alten. „Wenn jetzt die niederländischen Lokale wegen des Lockdowns ihre Gaststätten geschlossen haben, aber Belgien seine Restaurants offen halten darf, ist das kein Problem“, meint Willen van Gool und lacht. „Dann wechselt man halt die Straßenseite.“ So streng wie im allerersten Lockdown, als dies nicht möglich war, wird es jetzt nicht mehr gehandhabt. In Baarle sei man immer schon pragmatisch gewesen, sagt der ehemalige Ingenieur.
Die weißen Kreuze
Und so stört es auch Bürgermeister Frans de Bont nicht, dass er auf dem zehnminütigen Heimweg vom Rathaus acht Mal die Grenze überschreitet. Sichtbar ist sie nur anhand von weißen Kreuzen auf der Straße. Durch genau 160 der traditionell ziegelroten Backsteinhäuser zieht sich die Grenze hier. In manchen davon geht man in Belgien auf die Toilette und sitzt in den Niederlanden auf dem Wohnzimmersofa.
Das Wichtigste: Dort, wo die Eingangstür ist, dessen Staatsbürger ist man. Erst 1995 wurde eine exakte Grenzausmessung vorgenommen. Und dabei stellte sich heraus, dass eine Bewohnerin, durch deren Haus seit jeher die Grenze geht, unfreiwillig zur Niederländerin wurde. Weil man der alten Dame die mühsamen Behördenwege für eine neue Staatsbürgerschaft ersparen wollte, machte die Gemeinde den freundlichen Vorschlag: Man könne ja die Haustür um einen Meter versetzen. Und so geschah es auch. „Aber das war nur eine Ausnahme“, versichert Willem van Gool, „es gibt sehr strenge Vorgaben, ob eine Tür versetzt werden darf.“ Schließlich hängt von einem Meter mehr links oder rechts nichts weniger als die Berechtigung zu einem Pass ab.
Doch für die meisten Bewohner Baarles gilt ohnehin: Fast alle haben zwei Pässe, das ist in beiden Ländern erlaubt. Und bei aller Nähe beharrt man doch auf die Unterschiede zwischen Belgiern und Niederländern. Willem van Gool, der eine belgische Mutter hatte, sich selbst aber als Niederländer bezeichnet, sieht seine Landsleute als „sehr liberal und sehr darauf ausgerichtet, die Dinge geradeaus zu sagen“. Die Belgier, meint er „sind höflicher“.
Überhaupt sei heute alles entspannter und freundlicher als noch vor ein, zwei Generationen. „Zu meiner Schulzeit haben wir uns immer mit den belgischen Buben geprügelt. Es war so schlimm, dass das Ende des Unterrichts für belgische Kinder und uns um eine halbe Stunde verschoben werden mussten.“ Auch Bürgermeister Frans de Bot hatte, wie er dem KURIER schildert, in seiner Kindheit keine niederländischen Freunde. „Heute ist das ganz anders. Meine zweite Frau ist Niederländerin, von unseren vier Kindern sind zwei Belgier und zwei Niederländer.“
Zwei Rathäuser
Vollends miteinander verschmolzen sind die beiden Gemeinschaften dennoch nicht – auch wenn sie nun anstreben, eine „europäische Modellgemeinde zu werden“. Es gibt weiter zwei Postämter, zwei Rathäuser, zwei Bürgermeister und zwei Polizeieinheiten. Die aber logieren immerhin bereits unter einem Dach. „Und die Müllabfuhr“, erzählt Bürgermeister Frans de Bont stolz, „die sammelt mittlerweile für ganz Baarle den Müll ein.“ Neu ist auch die gemeinsame Feuerwehr: Die löscht inzwischen alle Brände – egal, ob auf belgischem oder niederländischem Boden.
„Es gibt nicht wenige Leute von außerhalb, die sagen: Weg mit den ganzen Enklaven, das ist doch nur kompliziert“, sagt de Bont und wehrt gleich ab: „Nein, nein, das ist unsere spezielle Situation, und wir leben gut damit.“ So gut, dass vor einiger Zeit sogar Israels Ex-Premier Netanyahu Emissäre nach Baarle schickte, um sich erklären zu lassen, wie man in einer geteilten Stadt so friedlich leben kann.
Kommentare