Atomanlage als potenzielles Terrorziel
Entging Belgien nur knapp einem Terrorangriff auf eine Nukleareinrichtung? Das Pariser Blatt „Libération“ veröffentlichte soeben eine ausführliche Recherche, die den Schluss nahelegt, dass die Dschihadisten-Zelle, die die jüngsten Attentate in Brüssel und zuvor in Paris durchführte, schon seit längerem auch belgische Atomanlagen im Visier hatte.
Ein erster Hinweis findet sich knapp nach dem Gemetzel von Paris im November. Die belgische Polizei nimmt Mohammed Bakkali fest, einen der mutmaßlichen Waffen- und Sprengstoff-Beschaffer der Paris-Attentäter, die vom Brüssler Stadtviertel Molenbeek aus agieren. In seiner Wohnung werden auch zehnstündige Videoaufnahmen entdeckt. Weil auf dem Streifen ein Linienbus aufscheint, kann die Polizei den Standort ausmachen. Die Kamera war in einem Gebüsch gegenüber einem Haustor versteckt und filmte das Ein- und Ausgehen eines Leiters eines Atomforschungszentrums. Die anschließend ausgewerteten Überwachungskameras der Umgebung zeigen, dass zwei Männer den Videostreifen abholen. Bei den zwei dürfte es sich um die Brüder Ibrahim und Khalid El Bakraoui handeln - zwei der Selbstmordattentäter von Brüssel.
Nie aufgeklärte Sabotage im AKW
Die belgischen Behörden sehen darin „eine Bedrohung einer Person, aber nicht einer Nukleareinrichtung“. Suspekte Vorfälle gab es freilich bereits seit längerem: im August 2014 wurde eine Turbine im AKW Doel bei Antwerpen sabotiert. Ein Vertreter von „Greenpeace“ enthüllte: „Die Überwachungskameras waren weggewendet worden. Es war also keine spontane Handlung und auch nicht das Werk eines einzelnen“. Die Autoren konnten nie ausgeforscht werden. Ein Jahr zuvor war in Doel ein Ingenieur entlassen worden, weil er sich islamistisch radikalisiert hatte: er weigerte sich seiner weiblichen Vorgesetzen die Hand zu reichen.
Ein weiterer Islamist, der bereits für seinen Hang zur Gewalt bei der Polizei vorgemerkt war, arbeitete drei Jahre für einen Subunternehmen des AKW Doel und erstellte Konformitätszertifikate. Dadurch hatte er auch Zugang zum nuklearen Teil der Anlage. 2012 ging er nach Syrien, wo er 2014 getötet wurde.
Subunternehmen könnten sich auch als die gefährlichste Einfallsschneise für Terroristen erweisen. Die zwei belgischen AKWs – aber auch die französische Nuklearindustrie – greifen verstärkt auf außenstehende Arbeitskräfte zurück, weil sie meistens flexibler und billiger sind. Obendrein werden sie bei etwaigen gesundheitlichen Schäden durch radioaktive Strahlen nicht so langfristig erfasst wie Festangestellte. Aber gerade ihr rascher Einsatz, inklusive in den Risikozonen der AKWs, ermöglicht kaum eine vorhergehende gründliche Prüfung ihres Werdegangs. Laut „Libération“ erklärte ein Techniker des AKW Doel: „Die Sicherheitsregeln schreiben vor, dass außenstehende Beschäftigte nie allein gelassen werden. Aber sie sind zu zahlreich, es ist unmöglich sie zu überwachen.“
Eine Serie von Nachlässigkeiten bei der Terrorbekämpfung
Unterdessen ergießt sich ein Strom von Vorwürfen über die belgischen Behörden bezüglich ihrer Nachlässigkeit bei der Terrorbekämpfung. So soll das Versteck des meist gesuchten Paris-Attentäters, Salah Abdeslam, im Brüssler Stadtteil Molenbeek schon seit 7.Dezember bei der Polizei in der flämischen Stadt Mechelen bekannt gewesen aber nicht weitergereicht worden sein. Nach seiner Festnahme am 18.März und bis zu den darauf folgenden Anschlägen vier Tage später in Brüssel sei Abdeslam nur ein einziges Mal von der belgischen Polizei verhört worden. Zwei der Kamikaze von Brüssel, die Brüder Khalid und Ibrahim El Bakraoui, waren von den US-Behörden als potenzielle Terroristen eingestuft worden. Der türkische Staatschef Erdogan hatte schon zuvor versichert, dass Ibrahim El Bakraoui im Vorjahr in der Türkei bei seinem Versuch nach Syrien zur IS-Terrormiliz zu gelangen, festgenommen worden und in die Niederlande ausgewiesen worden war, wobei die belgische Botschaft in Ankara davon in Kenntnis gesetzt wurde.
Die belgischen Minister für Inneres und Justiz hatten nach letzterem Vorwurf ihren Rücktritt angeboten, der aber von Premier Charles Michel sofort abgelehnt wurde: „Es gab vielleicht eine ungenügende Informations-Übermittlung aus der Türkei, aber auch in Belgien,“ gestand Justizminister Koen Geens.
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