Aus Langeweile in den Dschihad
Gibt es einen Dschihadisten-Prototyp? Sind es Geschwisterpaare wie zwei der Kamikaze der Anschläge in Brüssel, Ibrahim und Khalid El Bakraoui? Wie die beiden Paris-Attentäter Salah und Brahim Abdeslam? Oder wie die Brüder Cherif und Said Kouachi, die im Januar 2015 die Redaktion des Pariser Satiremagazins "Charlie Hebdo" auslöschten?
Sind es ohne Vater Aufgewachsene, wie Mohammed Merah, der 2012 drei Kinder und einen Lehrer in einer jüdischen Schule und zwei Soldaten in Südfrankreich erschoss? Oder wie Mehdi Nemmouche, der 2014 im jüdischen Museum in Brüssel vier Personen ermordete?
Sind es Einbrecher und Drogendealer (was auch auf Abdeslam und das Brüderpaar El Bakraoui zutrifft) oder schlicht abgeschlagene Existenzen aus sozialen Krisenvierteln wie Molenbeek in Brüssel? Oder unauffällige, beruflich gefestigte Familienväter und Mütter aus wohl temperierten Wohngegenden? Hochschulabsolventen mit besten Karrierechancen? Kinder muslimischer Eltern? Söhne und Töchter von Atheisten oder Islam-Konvertiten aus katholischen Familien?
Von allem ein bisschen
Von all dem einiges, und daher ist es kaum möglich, ein allgemein gültiges Phantombild des Dschihad-Terroristen zu zeichnen. Das unterstreichen jüngste Studien und Ereignisse in Frankreich.
Die Zeitung Libération veröffentlichte in Zusammenarbeit mit Studenten des Hochschulinstituts "Sciences-Po" die Ergebnisse einer Untersuchung des Lebenslaufs von 68 der insgesamt 168 Franzosen, die in Syrien starben. Weil ihre Ursprünge und Werdegänge so unterschiedlich waren, titelte Liberation: "68 Wege zum Dschihad". Es gab zwar öfter junge Leute, "die nur kurze Ausbildungen hatten und als Wachleute, Maurer oder Jugendbetreuer arbeiteten." Einige waren ohne Bildungsabschluss und arbeitslos. Aber andere waren angehende Ingenieure, Management-Berater, Marketingexperten.
Der Soziologe Raphael Loigier konstatiert: "Dschihadisten kommen aus unterschiedlichen Milieus, suchen ein neues Leben und Abenteuer". Eine "Flucht aus der Langeweile" ortete auch Le Monde in einer Reportage über eine Dschihadisten-Clique in Orleans, der geruhsamen Stadt an der Loire. Es handelte sich um einen Kreis von Freunden, die in "schmucken Vierteln" wohnten und keine Vorstrafen hatten. Telefonabhörungen offenbarten, wie die in Orleans Verbliebenen über Eintönigkeit jammerten und sich von den nach Syrien gelangten Freunden beeindrucken ließen.
Freilich: Die Gruppe entsprang zwar keinem sozialen Getto, es war aber doch ein schon zuvor gebildeter Kreis: Kinder muslimischer Familien und Konvertiten, die gemeinsam aufwuchsen. Später verkehrten sie in einer Moschee, die von Salafisten aus dem Pariser Großraum heimgesucht wurde.
Gruppendynamik spielt also eine Rolle, und es besteht auch kein Zweifel, dass Dschihadisten in sozialen Brennpunkt-Siedlungen gedeihen, in denen muslimische Migranten-Familien de facto abgesondert leben, überdurchschnittliche Arbeitslosigkeit herrscht und kriminelle Banden ihre Umgebung sowohl tyrannisieren als auch finanzieren. Wie Le Monde aber feststellt, "gibt es heute keine einzige Region, die verschont bleibt".
Mit der Terrorserie in Paris und Brüssel ist vor allem in Frankreich eine Großmaschinerie in Sachen Prävention angelaufen, in die viel Geld investiert wird. Aus Mangel an Erfahrungen und auch Personal ist daraus aber ein zum Teil etwas grotesk anmutender Wirtschaftszweig geworden. In einem Fall etwa mussten Gefängnis-Insassen, die sich islamistisch radikalisiert hatten, einen Hamster streicheln und dem Tier in die Augen schauen. In einer anderen Haftanstalt wurde von Gefangenen mit Hang zum Dschihad verlangt, sich in kriegerischer Pose, ein Plastikgewehr schwingend, fotografieren zu lassen – damit sie sich „auf sich selber rückbesinnen“, wie die selbst ernannte Therapeutin erklärte.
Mit derartigen Anti-Radikalisierungs-Methoden, so berichtet das Enthüllermagazin Canard enchainé, seien geschäftstüchtige Scharlatane in einigen französischen Gefängnissen zum Zuge gekommen, bevor die Behörden dem Spuk ein Ende bereiteten. Die Panik über die Ausbreitung des Dschihad hatte öffentliche Stellen veranlasst, Gelder manchmal unbedacht flüssig zu machen. Das rief Pseudo-Experten aller Art auf den Plan. Ein Imam kassierte für fiktive Anti-Dschihad-Kurse. Ein Psychologe warnte bei einem Lokalsender, Dschihadisten würden vor Schulen rekrutieren und bot verängstigten Eltern kostspielige Therapien an.
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