Aufregung um neues Sarrazin-Buch: Und wieder ein Skandal
Thilo Sarrazin hat also wieder einmal ein Buch geschrieben. Der Titel soll, folgt man der Vorberichterstattung in deutschen Medien, Programm sein. "Feindliche Übernahme. Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht", nennt sich das neueste Machwerk des Erfolgsautors, das bereits vor der heutigen Veröffentlichung auf Platz zwei der Amazon-Bestseller-Listen landete.
Mitgeholfen dürfte dabei auch die Aufregung um seinen neuen Verlag haben. Nachdem Sarrazin sich mit seinem Stammverlag Random House öffentlichkeitswirksam überworfen hatte, erscheint das Buch nun im Finanzbuch Verlag der Münchner Verlagsgruppe. Random House, so mutmaßen deutsche Medien, sei das Werk zu heikel gewesen.
Und die wichtigsten Punkte haben es tatsächlich in sich. Focus Online hat die Hauptthesen des ehemaligen Berliner Finanzsenators und SPD-Mitglieds so zusammengefasst:
Der Islam behindere in seiner, bei der Mehrheit der Muslime praktizierten, konservativen Ausrichtung freiheitliches Denken, Gleichberechtigung, Geburtenkontrolle und wirtschaftlichen Erfolg.
Liberale Muslime seien eine "winzige, hoffnungslose Minderheit". Daher seien die islamischen Staaten im Durchschnitt rückständig im Vergleich mit der westlichen Welt in Bezug auf Wirtschaft, Bildung, Kultur und Demokratie. Sarrazin pauschal: "Stark sind die islamischen Länder nur beim Bevölkerungswachstum."
Sarrazins Kernforderung geht dann weit über das hinaus, was etablierte Parteien in Deutschland fordern: Er will "die Einwanderung von Muslimen grundsätzlich unterbinden." Die heutige Einwanderung nach Europa vergleicht er mit der Völkerwanderung und den muslimischen Feldzügen des Mittelalters. Wobei er diesen Vergleich dann wieder verwirft. "Aber das Framing ist gesetzt", kritisiert der Tagesspiegel.
Reaktionen: "Grenz-völkisch" und "Angstmache"
"Feindliche Übernahme" sei damit so selektiv im Umgang mit der Realität wie es kreativ beim Umgang mit Statistiken und Prognosen ist, konstatiert der Tagesspiegel. Die Thesen seien mindestens so grenz-völkisch wie in "Deutschland schafft sich ab", Sarrazins erstem großen Bestseller, mit dem er bereits vor acht Jahren für ähnlich große Aufregung sorgte. In vielem wiederholt Sarrazin sich deshalb auch.
Der Islamwissenschaftler Mathias Rohe hält die Kernthese von "Feindliche Übernahme, Wie der Islam den Fortschritt behindert und die Gesellschaft bedroht" für nicht haltbar. Sarrazin gehe in seinem Buch fälschlicherweise davon aus, dass muslimische Zuwanderer ihre Einstellungen nicht veränderten, "dass sie sich gar nicht auf die deutsche Gesellschaft einlassen", sagte Rohe der Deutschen Presse-Agentur in Berlin. Eine breit angelegte Untersuchung habe jedoch beispielsweise ergeben, dass die Ablehnung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften unter Türken in der Türkei höher sei als unter türkischstämmigen Migranten in Deutschland.
Das Buch sei auf "Angstmache" angelegt, erklärte der Rechts- und Islamwissenschaftler von der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Die Einschätzungen zum Islam zeugten von einem für Sarrazin üblichen "Dilettantismus". Sarrazin wirft Rohe in seinem Buch seinerseits vor, er verschleiere und verharmlose "Missstände im deutschen Islam".
In Interviews zum Buchstart ging Sarrazin noch weiter. In der Illustrierten Stern warnte er davor, dass Muslime in zwei oder drei Generationen die Mehrheit in Deutschland stellen würden. "Sie können dann die Gesetze ändern, Deutschland und Europa so gestalten, wie sie es haben wollen", sagt er in einem Streitgespräch mit dem Hamburger Magazin. Das sind Thesen, wie sie etwa auch Martin Sellner von der Identitären Bewegung - vom Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstands als rechtsextrem eingestuft - teilt.
Nicht zuletzt deshalb forderte der deutsche Juso-Chef Kevin Kühnert nun ein neues Parteiausschlussverfahren gegen Sarrazin. Dieser habe mit den Grundwerten der SPD "schon lange nichts mehr zu tun", meint Kühnert - und befeuert damit eine Diskussion, wie sie die SPD bereits seit acht Jahren kennt: Wie groß ist die Bandbreite an Meinungen, die von der Parteilinie noch abgedeckt ist? Eine schwierige Frage, zumal Sarrazin stets darauf besteht, lediglich mit Fakten und Statistiken zu argumentieren. Von den 496 Seiten seines neuen Buches sind 69 allein Anhang.
Wobei deutsche Medien wie schon bei Sarrazins letztem Buch "Deutschland schafft sich ab" auch jetzt wieder auf die selektive Betrachtung dieser Daten hinweisen. So kritisiert der Tagesspiegel, das sich Sarrazin als selbsternannter Islamwissenschaftler eine Darstellung der wichtigsten Aussagen des Koran anmaße. "Eine historisch-kritische Auseinandersetzung unterbleibt, auch jede Auseinandersetzung mit der Literatur." Sarrazins Begründung: Er wolle bei seiner Bewertung "nicht von Behauptungen und Einschätzungen aus zweiter Hand leben" und habe deshalb "den Koran (…) von der ersten bis zur letzten Zeile gelesen".
"Voller sachlicher Fehler"
"Seine primitive Koran-Exegese ist voller sachlicher Fehler und nur Anlass für eine Ausweitung jener biologistischen Kampfzone, die er bereits in seinem ersten Buch beschrieb", kritisiert auch die Süddeutsche Zeitung.
Sarrazins These von der ursächlichen Verknüpfung von Islam und hohen Geburtenraten sei durch Studien zu dem Thema nicht gedeckt. "Der Einfluss der Religion auf die Geburtenrate ist schwer zu messen. Man sollte nicht annehmen, das der Islam ursächlich ist. Kulturelle, soziale, ökonomische, politische, historische und andere Faktoren könnten eine ebenso große oder größere Rolle spielen", heißt es etwa in einer Studie, die Sarrazin selbst zitiert. Die Studie "The Future of the Global Muslim Population" vom renommierten US-Umfrageinstituts Pew Research Center von 2011 nimmt an, dass die Geburtenrate von Muslimen in Europa über die Jahre sinkt, 2030 soll sie bei 2,0 liegen, – gegenüber 1,6 Prozent unter Nicht-Muslimen.
Trotzdem behaupte Sarrazin unter Berufung auf die Pew-Studie und eine eigene, nicht näher erläuterte "Überschlagsrechnung" in einem eigenen, nicht näher erläuterten "Szenario hohe Einwanderung", im Jahr 2050 würden in Deutschland 40 Prozent der Geburten auf Muslime entfallen. Das Resümee deutscher Medien: "Es ist nicht alles falsch, was Sarrazin sagt. Es ist nur wahnsinnig einseitig". Und die Süddeutsche urteilt: "Deutschland braucht dieses Buch so nötig wie einen Ebola-Ausbruch, und doch ist der Erfolg unabwendbar."
Zur Person: Sarrazin (73) war von 2002 bis 2009 Berliner Finanzsenator und machte sich mit einer drastischen Sparpolitik und der Sanierung des defizitären Landeshaushaltes einen Namen. Von Frühjahr 2009 bis Herbst 2010 war er Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank. Er ist SPD-Mitglied und hauptberuflicher Autor.
Kommentare