Armenien nach der Revolution: Neuanfang am Rande Europas

Armenien nach der Revolution: Neuanfang am Rande Europas
Präsident Armen Sarkissjan (r.) im Gespräch über über sein Land inmitten einer Welt in der Krise.

Bewegte Zeiten ist Armenien gewohnt. Einen „Ausnahmezustand, der schon 30 Jahre andauert“, nennt Armen Sarkissjan die vergangenen drei Jahrzehnte in dem kleinen Land im Südkaukasus, dessen Staatspräsident er ist: ein schweres Erdbeben 1988, das Ende der Sowjetunion, ein zuweilen praktisch offener, zuletzt aber wieder abflauender Krieg mit dem Nachbarland Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach, geschlossene Grenzen zur Türkei, Abwanderung, Armut und dann im Vorjahr eine kurze, unblutige aber tiefgreifende Revolution.

„Der Grund für den Aufstand war, dass die Leute unglücklich waren, es ging nicht um die Wirtschaft, wir haben ein stabiles Wachstum, es ging um Gerechtigkeit“, so Sarkissjan im Gespräch mit Journalisten in der armenischen Hauptstadt Eriwan. Angetreten war Revolutionsführer Nikol Paschinjan mit dem Versprechen, mit Korruption und Vetternwirtschaft aufzuräumen. Die Massenproteste begannen im April 2018. Am 8. Mai war Paschinjan Übergangspremier.

Darauf, dass diese Tage ohne Blutvergießen verliefen, ist das armenische Polit-Urgestein Sarkissjan durchaus stolz: „Viele Menschen haben dazu beigetragen“, sagt er. Und er betont mit gesetztem Stolz: „Und so auch ich.“ Es sei damals darum gegangen, die Lage in einem Dialog zu bewältigen, und das habe man geschafft.

Seit der vorgezogenen Parlamentswahl Anfang Dezember 2018 regiert Premier Paschinjans Wahlbündnis „Mein Schritt“ nun mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament. 70 Prozent der Wähler hatten für den ehemaligen Journalisten, politischen Gefangenen und Oppositionellen gestimmt. Noch ist die Kabinettsbildung nicht abgeschossen. Aber die Erwartungen an die neue Führung sind gigantisch. Und ebenso sind es die Aufgaben.

„Nicht bis morgen“

„Wir haben große Probleme“, räumt Sarkissjan ein. Zugleich aber sieht er in Armenien großes Potenzial. Vor allem aber sieht er sein Land in einem Lernprozess. „Wir haben keine Erfahrung mit Parlamentarismus“, es gelte, so sagt der Staatschef, viel zu lernen. Dass die Bürger jetzt rasch auf große Veränderungen hofften, verstehe er. Veränderungen aber, „die es nicht bis morgen“ geben werde. Was das Land jetzt brauche, sei eine „Revolution in den Köpfen, eine der politischen Kultur“. Es gehe darum, die Bürger einzubinden, sie zu verantwortlichen Bürgern zu machen.

Ein europäisches Land nennt Sarkissjan Armenien. Und eine „Nation des 21. Jahrhunderts“, die über ihre riesige Diaspora international bestens vernetzt sei. Gerade in dieser Diaspora ortet er wirtschaftliche Chancen.

Armenien aber sei eben auch ein Land, in dem ein langer Lernprozess anstünde. Sein Vorbild: Europa als Beispiel starker Institutionen, als Beispiel einer Kultur der Machtkontrolle und der Gewaltenteilung. Zugleich aber sagt er: „Vor 20 Jahren war Europa anders.“ Und mehrmals betont er: „Europa hat große Probleme.“ Er nennt Griechenland, Frankreich, EU-interne Konflikte um Migration sowie den Brexit. Aber dennoch: „Europa ist sehr wichtig für uns.“ 2017 hat Armenien ein Kooperations- und Partnerschaftsabkommen mit der EU geschlossen. Beziehungen, so sagt Sarkissjan, die man durchaus weiter vertiefen wolle.

Zugleich pflegt das Land gute Beziehungen zu Moskau, ist Teil der Eurasischen Union und erlaubt russische Militärbasen auf seinem Gebiet. Diese Beziehungen müsse Armenien aufrechterhalten. „Wir müssen das Beste aus dieser Situation machen“, sagt Sarkissjan. So wie Österreich von seiner Lage als Sprungbrett zwischen Ost und West profitiert habe, so könne Armenien als Kreuzungspunkt zwischen Ost und West sowie Nord und Süd profitieren.

Klar sei jedoch auch – und auch das betont Sarkissjan immer wieder: „Die Welt ist weniger stabil, als sie einmal war, weniger vorhersehbar.“ Und immer wieder sagt er: Diese Welt liefere „mehr Fragen als Antworten“.

Immerhin, so erwähnt er auch, hätten sich die Spannungen um die zwischen Armenien und Aserbaidschan umstrittene Region Berg-Karabach reduziert. Von einem nahen Durchbruch will Sarkissjan aber nicht sprechen. Dafür sei es zu früh, „immerhin haben wir noch keine komplette Regierung“.

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Land der Gegensätze: In weiten Teilen der Provinz dominiert bittere Armut, Eriwan gibt sich durchaus mondän.

Alte Elite

Die Suche nach Lösungen und Antworten aber war Sarkissjans ursprünglichste berufliche Aufgabe. Er arbeitete als Physiker und Informatiker. Schließlich wurde er Armeniens erster Botschafter in London, war 1996 und 1997 kurz Premierminister, ging danach in die Wirtschaft, kehrte aber als Diplomat zurück und wurde schließlich im April vom Parlament mit breiter Mehrheit zum Präsidenten gewählt.

Als solcher ist Sarkissjan zwar Vertreter einer alten Elite, hat aber das Vertrauen der an die Macht gekommenen neuen Generation. Dieser Elitenwechsel, sagt Sarkissjan, berge wohl Risiken. Nachsatz: „Aber keine großen.“ Und er sagt: „Wer nichts riskiert, endet in Stagnation.“

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Hintergrund: Kleines Land mit großer Geschichte

Christentum, ein Genozid und ein Erdbeben prägen bis heute die Gegenwart des Landes

Gerade einmal knapp drei Millionen Einwohner zählt Armenien innerhalb seiner Grenzen.  5,6 Millionen Armenier leben offiziell außerhalb Armeniens. Schätzungen gehen aber von bis zu 10,5 Millionen aus.

Die Geschichte der Migration ist eng mit der Geschichte Armeniens verbunden: Über den Handel auf der Seidenstraße bildeten sich armenische Gemeinden in ganz Europa wie Asien, und humanitäre Tragödien und wirtschaftliche Krisen stachelten Fluchtwellen an. Zugleich ist die Geschichte des Landes eng mit dem Christentum verbunden. Armenien war das erste Königreich, das im Jahr 301 das Christentum zur Staatsreligion machten – noch vor dem römischen Reich.

Die moderne Geschichte Armeniens ist eng mit dem bis heute größten Trauma das Landes verbunden: Dem Völkermord an Armeniern durch das in den letzten Zügen liegende Osmanische Reich in den Jahren 1915 und 1916. 1,5 Millionen Menschen starben bei Todesmärschen oder in geplanten Tötungsaktionen. Seit 1936 bestand im Verband der Sowjetunion schließlich die Armensiche SSR. Innerhalb der UdSSR wurde Armenien zum Zentrum der chemischen Industrie, der Raumfahrt und der Informatik – bis am 7. Dezember 1988 ein schweres Erdbeben das Land erschütterte. Mindestens 25.000 Menschen starben, die Industrie lag in Trümmern. Durch den Zerfall der Sowjetunion kurz später wurden diese Schäden auch nie behoben. Hinzu kam der Krieg mit Aserbaidschan um die Region Berg-Karabach.

Mit Aserbaidschan unterhält Armenien bis heute keine diplomatischen Beziehungen. Ebensowenig mit der Türkei. Diese schwierige politische Lage sowie der wirtschaftliche Niedergang haben dazu geführt, dass bis heute Hunderttausende Armenier im Ausland (vor allem Russland) arbeiten und Geld in die Heimat schicken. Das Land gilt aber bis heute als eines der ärmsten der ehemaligen Sowjetunion.

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