Arbeitskräfte-Mangel zwingt London zum Umdenken bei Zuwanderungspolitik

Arbeitskräfte-Mangel zwingt London zum Umdenken bei Zuwanderungspolitik
Rigorose Praxis im Zuge des Brexits könnte aufgeweicht werden – doch im Kabinett von Regierungschefin Truss regt sich Widerstand.

"Mitarbeiter gesucht“ – „Bewerben sie sich heute und starten sie noch diese Woche“ – „Wir stellen ein!“: Wie sehr britische Gastronomie- und Handelsunternehmen seit dem Brexit und der Corona-Pandemie an Personalmangel leiden, merkt man an Schildern, die dieser Tage Straßen in Städten wie St. Albans nördlich von London zieren. Aber auch in Landwirtschaft, Fleischindustrie, Gesundheitswesen, Logistik etc. fehlen Arbeitskräfte, die vor dem EU-Austritt oft aus Kontinentaleuropa kamen. Der Brexit brachte deutlich verschärfte Regeln für Angestellte aus der EU, samt teurer und aufwendiger Visa, mit Blick auf ein zentrales Versprechen: niedrigere Zuwanderung.

Die neue konservative britische Premierministerin Liz Truss hatte erst Anfang September ihren Vorgänger Boris Johnson gepriesen, weil er den „Brexit vollendet“ habe. Jetzt plant sie aber laut Medienberichten, die Einwanderungsregeln des Landes zu lockern, um mehr Arbeitsvisa für Ausländer zu erlauben und so Job-Löcher zu stopfen.

Rekord an offenen Stellen

Einerseits soll die sogenannte „shortage occupation list“, also Liste der Mangelberufe in wichtigen Branchen, ausgeweitet werden. Dank ihr können Firmen in Bereichen wie Gesundheit und Ingenieurwesen ausländische Bewerber via vereinfachter Prozesse anheuern. Andererseits sollen die Obergrenze von rund 40.000 Visa für Saisonarbeiter in der Landwirtschaft und die maximale Aufenthaltsdauer von einem halben Jahr aufgehoben werden. In manchen Branchen könnte auch die Anforderung, Englisch zu sprechen, gelockert werden.

Die Zahl offener Stellen im Land hält trotz leichter Rückgänge nahe dem im Juni aufgestellten Rekordwert von 1,3 Millionen für die vorangegangenen drei Monate. Schlagzeilen machten im Sommer auch Daten, wonach 188.000 weniger EU-Bürger, darunter Lkw-Fahrer aus Rumänien und Stahlarbeiter aus Polen, in Großbritannien arbeiteten als noch vor zwei Jahren. Davor hatten bereits leere Supermarktregale und weniger geschlachtete Schweine wegen Personalmangels für Diskussionen gesorgt.

Wirtschaftsvertreter, die auch angesichts von Pandemie und Lieferengpässen Visa-Erleichterungen gefordert hatten, begrüßten den Truss-Vorstoß. Er passt zu ihrem Versprechen, die Wirtschaft im Kampf gegen die Rekordinflation und eine Rezession, deren Beginn die Zentralbank des Landes letzte Woche verkündet hatte, anzukurbeln: „Wir müssen Maßnahmen ergreifen, damit wir über die richtigen Fähigkeiten verfügen, die die Wirtschaft, einschließlich der Landwirtschaft, benötigt, um Wachstum zu stimulieren“, zitierte der Guardian eine anonyme Regierungsquelle. „Dazu werden wir Zahlen in einigen Bereichen anheben, in anderen absenken“, was allerdings nicht unbedingt zu höherer Nettoeinwanderung führen müsse, betonte diese. Auch Arbeitslosen wolle man zu neuen Posten helfen.

Mit einem Aufweichen der Migrationsregeln droht Truss, Brexit-Unterstützer gegen sich aufzubringen, darunter Brexiteers im eigenen Kabinett. Innenministerin Suella Braverman oder Wirtschaftsminister Jacob Rees-Mogg stemmen sich laut Times bereits dagegen. So ließ Braverman Truss über den konservativen Telegraph ausrichten: „Immigration muss sinken, auch wenn Großbritannien auf Wachstum drängt.“ 

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