Angst vor Chaos nach Truppen-Abzug
In der verrauchten Gandamack-Lodge geht jeden Abend die Post ab. Hat man die Leibesvisitation hinter sich und in einer Sicherheitsschleuse den Pass abgegeben, steigt man ein paar Stufen in die Kellerbar mitten in Kabul. Sie ist der Treff westlicher Ausländer, die teils schon jahrelang in der Hauptstadt leben. Bei jeder Menge Bier – die kleine Dose für zehn Dollar – schildern einander Sicherheitskräfte, NGO-Mitarbeiter und Firmen-Vertreter die letzten Abenteuer.
Ihre Einschätzung der Lage ist im Gegensatz zu den offiziellen afghanischen Stellen, der ISAF-Schutztruppe und der EU eine ganz andere: Es ist gefährlicher geworden.
Schon hinter der prachtvollen schneebedeckten Bergkette lauert im Norden Kabuls die tödliche Gefahr. Kämpfer der radikal-islamischen Taliban kontrollieren dort wieder die Täler. Ein Mitarbeiter einer internationalen Organisation, der anonym bleiben wollte, zum KURIER: „Ich fahre heute nicht mehr in Gegenden, in die ich vor vier Jahren noch problemlos kam.“
Allgemeiner Beobachtung nach haben die Taliban, die bis zu 30.000 Mann unter Waffen haben, ihre Strategie verändert. Sie meiden die direkte Konfrontation mit afghanischen Streitkräften und den ISAF-Soldaten.
Stattdessen beschießen sie von den Bergen aus Versorgungsrouten und binden so Tausende Soldaten, die zum Schutz ausrücken müssen. Um Nachwuchs brauchen sich die Extremisten nicht zu sorgen. Vor allem die Hunderttausenden Binnenflüchtlinge, um die sich kaum jemand kümmert, sind anfällig. Zumal die Taliban gut zahlen. Ihre Kriegskasse ist fett. Allein mit Schutzgeld-Erpressungen sollen sie jährlich 400 Millionen Dollar lukrieren – die zweitgrößte Einnahmequelle nach dem Opium- und Heroingeschäft.
Viele Afghanen befürchten, dass nach dem geplanten Abzug der ISAF-Truppen Ende 2014 das Land im Chaos versinken und so die erzielten Erfolge im zivilen Bereich zunichte gemacht werden: „Wir haben jetzt 200.000 Studenten, davon 38 Prozent Frauen, vor zehn Jahren waren es 8000 Studenten und keine einzige Frau. Und das Pro-Kopf-Einkommen ist von 185 auf 659 Dollar gestiegen“, sagte der Berater von Afghanistans Präsident Karzai, Dadfar Spanta, vor österreichischen Journalisten. Was die Sicherheitslage anbelangt, räumte er ein, dass es in 90 von 460 Bezirken Probleme gebe, „aber die Regierung ist in keiner Weise in Gefahr“.
Österreichische Hilfe
Ähnlich äußerte sich Karzai auch im Gespräch mit Außenminister Michael Spindelegger am Samstag in Kabul. Weitere Themen der Unterredung: Menschen- und Frauenrechte, die Wahlen 2014 und die Wirtschaft, der massiv Ungemach droht. Laut einer Weltbankstudie könnte der ISAF-Abzug Afghanistan bis zu 40 Prozent Wirtschaftskraft kosten. „Das Land ist in einer entscheidende Phase“, sagte Spindelegger in einem Pressegespräch.
Österreich wolle unterstützen und sich vor allem an der Ausbildung von Polizisten beteiligen. Gleichsam als Gegenleistung sollen Gespräche über ein Rückführungsabkommen von abgewiesenen afghanischen Asylwerbern starten.
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