"Andere enden im Flüchtlingslager": Syrer wird Bürgermeister

"Andere enden im Flüchtlingslager": Syrer wird Bürgermeister
Ryyan Alshebl ist vor acht Jahren über die Balkanroute nach Baden-Württemberg gekommen. Er übernimmt eine kleine Ortschaft, die vor typischen Problemen steht.

"Es entsteht eine neue Persönlichkeit." Das sagte heute, Dienstag, der künftige Bürgermeister von Ostelsheim in Baden-Württemberg, Ryyan Alshebl, vor der ausländischen Presse in Berlin über sich. Am 19. Juni ist sein erster Arbeitstag als Gemeindeoberhaupt. Vor acht Jahren war er als syrischer Flüchtling ohne Fremdsprachenkenntnisse nach Deutschland gelangt. Im April war er in sein Amt gewählt worden.

"Im Augenblick gibt es viel Krach, aber ich bin noch gar nicht im Amt", sagt der 29-Jährige. Man würde keinen Syrer hinter dem jungen Mann mit Drei-Tage-Bart vermuten, der nicht nur fehlerfrei, sondern auch nahezu akzentfrei deutsch spricht. Und der trotz des Rummels um seine Person bescheiden bleibt: Zwar sei im Dorf etwas passiert, das nicht jeden Tag passiere. "Das erweckt die Aufmerksamkeit der Bürger und Bürgerinnen bei uns. Das darf aber nicht dazu führen, dass man Sorgen vor dem Handeln hat. Man muss entscheiden."

➤ Mehr lesen: Österreich schiebt weiterhin nicht nach Syrien ab

Die Probleme der kleinen Ortschaft

In der 2700-Einwohnergemeinde Ostelsheim gebe es keinen Lebensmittelladen und Probleme mit der Kinderbetreuung, Gewerbe soll angesiedelt werden. All dies sind Punkte aus seinem Wahlprogramm, mit dem sich der für die Grünen angetretene Alshebl gegen einen Kandidaten aus der Region durchsetzte. Ein seltenes Ereignis, wie er selbst zugibt: "Gerade Menschen im ländlichen Raum werden geschlossene Strukturen unterstellt, die neu Zugezogenen wenig Chancen geben."

Vor acht Jahren war Alshebl mit vier Freunden aus Syrien geflüchtet, "hauptsächlich wegen des Militärdienstes". Innerhalb von zwölf Tagen gelangten sie über den Libanon, in einem Schlauchboot von der Türkei nach Griechenland und weiter über die Balkanroute und Österreich nach Deutschland. "Das war in der Zeit, als es in Europa die Vereinbarung gab, dass die Leute rüber durften."

"Rationale Begradigung der Gefühle"

Das neue Leben in Deutschland erfordere Pragmatismus, sagt der junge Bürgermeister. Er freue sich diese Möglichkeit erhalten zu haben. "Andere enden im Flüchtlingslager. Das hätte auch ich sein können, ich habe Glück gehabt." Nach anfänglichen Gefühlen nicht heimisch zu sein, habe sich seine Situation normalisiert. "Und das ist auch gut so. Es braucht immer eine rationale Begradigung der Gefühle."

Seine ausgezeichneten Deutschkenntnisse führt er auf mehrere Faktoren zurück: "Man hat keine andere Möglichkeit als Deutsch zu lernen. Eher Schwäbisch sogar." Allein der Umgang mit anderen Menschen dränge dazu die Sprache zu erwerben. Hinzu komme eine grundsätzliche Sprachbegabung bei ihm.

Seit dem Vorjahr Staatsbürger

2022 erhielt Alshebl zwei Jahre früher als nach den vorgesehenen acht Jahren in einer Ermessenseinbürgerung die deutsche Staatsbürgerschaft. Mit seinem syrischen Maturazeugnis klappte es nicht so gut. Wegen zwei Prozenten Differenz wurde es nicht als deutsche Matura anerkannt. Ein Weiterstudium scheiterte an der Altersvoraussetzung. So machte er eine Berufsausbildung in der Verwaltung und entschied sich als Bürgermeister zu kandidieren.

Seine in Syrien verblieben Eltern hat Alshebl erst einmal seit seiner Flucht gesehen: Voriges Jahr im Zug einer Dienstreise in den Libanon. Besuche der Eltern beim Sohn seien nicht möglich: "Deutschland gibt keine Visa für syrische Staatsbürger, weil jeder Syrer als potenzieller Flüchtling angesehen wird." Einer seiner beiden Brüder lebt ebenfalls in Baden-Württemberg, er hat Maschinenbau in Deutschland studiert.

Alshebl kommt aus keiner religiösen Familie und ist selbst nicht religiös. Im Wahlkampf war dies aber zum Thema gemacht worden. Ob er andere Flüchtlinge in seiner Gemeinde aufnehmen werde? "Man will natürlich anderen Leuten helfen. Für die Verteilung ist aber der Landkreis zuständig. Und der ist schon überlastet. Den Willen Deutschlands Leute aufzunehmen halte ich für menschlich geboten, realpolitisch betrachtet muss die EU die Verteilung fair hinbekommen."

Kommentare