Warum Albanien nicht Österreich wird - und trotzdem in die EU muss
Er ist die unangefochtene politische Zentralfigur seines Landes – und er hat Albanien im Eiltempo auf EU-Kurs getrimmt. Edi Rama, Premierminister, Ex-Spitzensportler, Künstler, schillernde und auch zwielichtige Figur , sprach mit dem KURIER und anderen österreichischen Zeitungen in Tirana.
KURIER: Warum sollte die EU eigentlich Albanien aufnehmen?
Edi Rama: Es geht nicht nur um Albanien, sondern um die gesamte Region, den Westbalkan und die Europäische Union selbst. Dieser Teil Europas sollte nicht von der EU entkoppelt bleiben. Aus Gründen der Sicherheit und der Einheit Europas ist es vollkommen klar – zumindest für mich –, dass es keinen anderen Weg gibt, als die Länder des Westbalkans zu integrieren. Der Westbalkan liegt mittendrin. Ich spreche daher nicht von einer Erweiterung, sondern von einer Vereinigung.
Sie haben Ihren Landsleuten den EU-Beitritt 2030 in Aussicht gestellt. Haben Sie keine Angst, sie zu enttäuschen?
Nein, ich habe das nicht einfach so leichtfertig dahingesagt, sondern auf Grundlage einer Vereinbarung mit der Europäischen Kommission. Nach Abschluss der Verhandlungen rechnen wir mit weiteren zwei Jahren für die Ratifizierungsprozesse. Daraus ergibt sich unser Zieljahr 2030. Hinter dieser Zeitplanung steht eine fundierte Kalkulation. Kann sich das ändern? Selbstverständlich – aber nicht wegen uns. Wenn es sich wegen der EU ändert, ist das eine andere Geschichte.
Edi Rama mit Ursula von der Leyen
Aber hat Albanien genug Zeit, all die Reformen zu verdauen, etwa beim Kampf gegen Korruption? Wenn Sie mich fragen, ob wir in zwei Jahren wie Österreich sein werden, sage ich: Nein, keineswegs. Aber der Beitritt bezieht sich auf sehr klare, spezifische Prinzipien und Kriterien, die insgesamt erfüllt werden müssen. Der Kampf gegen dies und das ist eine nie endende Geschichte, da werden wir auch nach dem EU-Beitritt daran weiterarbeiten. So wie die Dinge stehen, sehe ich in dieser Phase keine Gefahr, dass wir die Reformen nicht verdauen können.
Vertreter der Opposition nennen Sie einen Diktator. Wenn sie mich nicht Diktator nennen würden, würden sie ihre Arbeit hundsmiserabel machen. Ich habe kein Problem damit. Ich werde ihnen nicht sagen, dass sie aufhören sollen. Ich will ja, dass sie bei den nächsten Wahlen wieder verlieren. Indem sie diesen Unsinn behaupten, arbeiten sie am Ende für uns.
Es ist nicht lange her, da gab es Krieg auf dem Westbalkan. Ist es möglich, die Region zu befrieden, in der EU zusammenzubringen? Ich habe da eine sehr saubere Bilanz. Ich war, metaphorisch gesprochen, nie in eine regionale Schlägerei verwickelt. Ich habe die friedlichste Bilanz überhaupt. Der Westbalkan ist nicht die Schweiz, aber ich muss auch sagen: Die Region ist heute anders als früher. Es ist so viel friedlicher, und es gibt so viel mehr Zusammenarbeit, dass wir uns nicht beklagen sollten. Wir haben in der letzten Dekade mehr getan als in den vorherigen tausend Jahren zuvor. Bis 2014 gab es nie den Fall, dass sich die Führer des Westbalkans getroffen, hingesetzt und über die Zukunft der Region diskutiert haben. Seit 2014 haben unzählige Treffen stattgefunden. Wir sind nicht immer einer Meinung, was in Ordnung ist. Aber ich denke, wir erleben gerade die friedlichste Zeit des Westbalkans in der Geschichte.
Die Türkei und China versuchen auf dem Balkan Einfluss zu gewinnen, auch Russland mischt mit. Wie positioniert sich Albanien da? Albanien ist zu klein, um wählerisch zu sein. Wir müssen mit allen reden und in der Lage sein, jeden so gut wie möglich zu verstehen. Wir hatten in den 35 Jahren seit der demokratischen Wende nie einen Staatsbesuch in Russland und wurden nie besucht. Und ehrlich gesagt stört uns das auch nicht weiter. Aber wenn es um die Europäische Union geht, denke ich: Die EU sollte mit Russland sprechen und nicht weiter ihre Außenpolitik an Washington auslagern. Am Ende des Tages ist Russland der Nachbar der Europäischen Union, nicht der Nachbar der Vereinigten Staaten. Und mit Nachbarn muss man reden.
Befürchten Sie weitere russische Angriffskriege in Osteuropa? Ich könnte völlig falsch liegen, aber ich bin überhaupt nicht besorgt. Ich glaube nicht, dass Russland irgendein EU-Land überfallen wird. Sie sind ja nicht einmal in der Lage, die ukrainische Armee in dem Teil der Ukraine zu besiegen, wo sie ihre imperialistischen Ziele verfolgen. Ich denke, Russlands Provokationen sind Teil ihrer Strategie.
Beim aktuellen Bauboom in Tirana soll Drogengeld eine Rolle spielen. Wenn Sie die Menge an Drogengeldern überprüfen, die in Europa angeblich gewaschen werden, dann spielt Albanien dabei nur eine sehr untergeordnete Rolle. Haben wir Probleme dieser Art? Ja, die haben wir. Aber sind diese Probleme so groß, dass man einen Aufruhr in Europa darüber machen muss? Ich denke, das ist lächerlich. Menschen, die zum zum ersten Mal nach Tirana kommen, sehen all diese neuen Bauten und stellen sich die Frage: Was geht hier vor? Es ist deshalb möglich, weil wir arbeiten. Glauben Sie, wir liegen in der Sonne und warten darauf, dass Drogen umgeschlagen werden? Die Realität sieht anders aus: Wir arbeiten sehr hart.
Es gibt Stimmen in der EU, die eine Erweiterung sehr skeptisch sehen. Ich denke, jene, die zögern, erkennen jetzt, dass das Zögern keine gute Idee ist. Der EU-Beitritt umfasst auch die Vereinigung des Westbalkans. Wir sind Richtung Europa gesegelt, selbst als Europa nicht in Sicht war. Wir machen die Hausaufgaben nicht, um der EU zu gefallen. Wir machen sie, um Albanien europäischer und demokratischer zu machen.
Niemand außer die EU kann einem Land so gut beibringen, wie man Institutionen aufbaut. Den Amerikanern fehlt dafür die Geduld. Sie wollen die Dinge mit Bomben regeln und predigen dann auch noch. In Albanien wären wir heute nicht dort, wo wir sind, wenn wir die EU nicht hätten. Okay, wir hätten auch die Kopfschmerzen oder die Neurosen nicht, die damit einhergehen. Mit der EU zu arbeiten, das fühlt sich manchmal sehr neurotisch an. Man hat das Gefühl, man möchte auf die Spitze eines Minaretts steigen und wie verrückt brüllen. Aber am Ende ist dieser ganze Prozess sehr hilfreich. Es ist bittere Medizin. Aber: Wir reden von Medikamenten und nicht von Gift.
Apropos Minarett, Albanien wäre das erste mehrheitlich muslimische Land in der EU. Wenn alle Muslime der Welt wie die Muslime Albaniens wären, wären Allah und Jesus glücklich. In Albanien leben Muslime und Christen. Ich bin katholisch, meine Frau ist Muslimin, unsere zwei Kinder aus früherer Ehe sind christlich-orthodox. Es gibt einen gemeinsamen Nenner: 92 Prozent der Albaner lieben die EU. Die EU-Mitgliedschaft Albaniens ist ein Weg zu zeigen, dass es nicht um Muslime oder Christen geht, sondern um Geografie, um Geopolitik. Wir fühlen uns europäisch, sind Europäerinnen und Europäer, Europa ist unsere wichtigste Religion. Wenn wir EU-Mitglieder sind, wird unser fast schon religiöser Eifer Europa betreffend vielleicht abnehmen, aber im Moment sind wir wahre EU-Fanatiker.
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