"Wie Nordkorea mit Bart": Kriegsreporter über Reisen durch Afghanistan
Nach der neuerlichen Machtergreifung der Taliban 2021 bereiste "Spiegel"-Journalist Christoph Reuter monatelang das Land. Was er erlebte, schildert er in seinem neuen Buch und im KURIER-Gespräch.
Christoph Reuter bereist Afghanistan seit 2002, lebte sogar mehrere Jahre dort. Nach der erneuten Machtergreifung der Taliban im August 2021 bot sich dem Spiegel-Reporter die Gelegenheit, zum ersten Mal überhaupt alle Winkel des Landes zu erkunden.
KURIER: Herr Reuter, Sie kennen Afghanistan seit mehr als 20 Jahren. Wie hat sich das Leben der Menschen durch die neuerliche Taliban-Herrschaft verändert?
Christoph Reuter: Stellen Sie sich vor, Sie leben in einem Land, das zu drei Vierteln von Ausländern finanziert wird. Die bezahlen den Sold der Armee, der Polizei oder finanzieren Bauprojekte. Plötzlich brechen in einer Woche alle Einnahmen weg – so, als würden in Deutschland alle großen Unternehmen wie Biontech oder Daimler-Benz sagen: Wir gehen und kommen nicht mehr wieder.
In Afghanistan gibt es nichts mehr, was Gehälter und Mehrwert generieren kann. Die Taliban-Regierung finanziert sich durch Zölle und Steuern. Es wird ein bisschen Steinkohle produziert, Obst, Nüsse und Opium, obwohl das offiziell verboten ist.
Würden nicht das Welternährungsprogramm und andere UN-Organisationen mittlerweile die Hälfte der Bevölkerung mit Lebensmitteln versorgen, würden Millionen Afghanen verhungern.
Die UNO hat gedroht, sich im Mai aus Afghanistan zurückzuziehen, sollten die Taliban nicht das Arbeitsverbot für lokale UN-Mitarbeiterinnen aufheben.
Darauf zu wetten, dass die Taliban die Bevölkerung vor die Ideologie stellen, ist riskant. Bei ihnen gibt es zwei Gruppen: eine sagt, wir brauchen Schulen, Nähe zum Westen, Geld, sonst gehen wir Pleite. Die andere, radikalere sagt, wir dürfen uns doch jetzt nicht dem Westen beugen.
Leider wissen beide, dass es das Wichtigste ist, sich nicht spalten zu lassen, um die Macht zu behalten. Deshalb werden auch so hartleibig die verrückten Dekrete des obersten Emirs verteidigt.
Christoph Reuter, geboren 1968, ist studierter Islamwissenschaftler und spricht fließend Arabisch. Er arbeitete für die Zeit und den Stern, für den er als Korrespondent mehrere Jahre lang in Afghanistan lebte. Seit 2011 schreibt Reuter für das Nachrichtenmagazin Der Spiegel.
Er veröffentlichte mehrere Bücher, darunter "Mein Leben ist eine Waffe" über Selbstmordattentäter (2002) und den Bestseller "Die schwarze Macht. Der 'Islamische Staat' und die Strategen des Terrors" (2015).
Die UNO hat nun die Wahl zwischen Pest und Cholera. Wenn sie bleibt, beugt sie sich einer Politik, die gegen ihre Regeln verstößt. Wenn sie geht, werden die Leidenden zuerst die Hunderttausenden Haushalte ohne männliche Ernährer sein, die Witwen und letztlich alle Frauen im Land.
Wie schaffen es die Taliban, anders als vor 2001 praktisch das gesamte Land unter Kontrolle zu halten?
Sie haben eines brillant gelernt: Kontrolle. Afghanistan ist wie Nordkorea mit Bart. Überall, wo wir während unserer Reise übernachtet haben, kamen Leute vom Taliban-Geheimdienst vorbei, auch wenn die oft nicht die hellsten waren.
Die Taliban überwachen, so gut es geht, jedes Tal, auch die letzten Winkel, in denen früher Al Qaida und andere Radikale waren. In Kabul haben sie mitunter so viel Angst verbreitet, dass die Leute freiwillig ihre Waffen abgegeben haben.
Vor August 2021 konnten wir zwar freier in Afghanistan operieren, der Großteil des Landes abseits Kabuls war aber Kampfgebiet oder gehörte bereits den Taliban. Da konnten wir nicht hin.
Mit der Machtergreifung der Taliban gab es auf einmal die faszinierende Chance, in jeden Teil des Landes zu fahren; es gab ein Zeitfenster, zu erkunden, was die Leute denken und von der Zukunft erwarten – das war die Idee des Buches.
Am Anfang haben die Taliban uns machen lassen. Sie haben uns zwar manchmal aufgehalten, uns aber nicht für Wochen verhaftet, wie sie es jetzt mit Kollegen machen. Das Zeitfenster hat sich jedoch inzwischen geschlossen, die Taliban lassen kaum noch Reporter ins Land.
Warum?
Sie haben gemerkt, dass der Plan, nett zum Westen zu sein, um anerkannt zu werden – Dieben z. B. nicht mehr die Hände abzuhacken oder Mädchen den Schulbesuch erst ab der Oberschule zu verbieten – nicht aufging.
Für den Westen sind die Taliban immer noch Barbaren. Selbst Berichte, die, wie ich finde, ausgewogen und fair sind, sind ihnen viel zu kritisch.
Ihr Buch heißt „Wir waren glücklich hier“. Woher stammt das Zitat?
Ich wurde in den Chaostagen 2021 von den Amerikanern aus Kabul abgeschoben. Ich saß mit 500 Afghanen in einer Frachtmaschine und einer sagte: „Wir waren glücklich hier.“
Aus dem afghanischen Bürgerkrieg gingen Mitte der 1990er-Jahre die radikal-islamischen Taliban als Sieger hervor. Die bärtigen, selbst ernannten Gotteskrieger herrschten bis 2001, als eine US-geführte Allianz nach den Terroranschlägen des 9. September in den USA im Land einmarschierte.
Im August 2021 gelang es den Taliban in wenigen Wochen, die Macht zurück zu erobern. Anders als früher kontrollieren sie heute nahezu ganz Afghanistan. Allerdings gewinnt der afghanische Ableger des „Islamischen Staats“ Beobachtern zufolge an Einfluss. Der deutsche Verfassungsschutz und das Pentagon warnten vor kurzem, dass die Terrormiliz von Afghanistan aus Anschläge in Europa und den USA plane.
Wenn man andere Bücher oder Artikel über Afghanistan liest, glaubt man, dort ist es nur grauenvoll. Man versteht nicht, warum die Menschen ihre Heimat so sehr lieben, dass Afghanistan auch ein wunderschönes Land ist und es viele gibt, die sich dort engagiert um andere Menschen kümmern.
Sie haben auch aus der Ukraine berichtet. Inwiefern war die Arbeit dort anders?
In Afghanistan wird nicht geschossen, da wird keine Artillerie abgefeuert, da rollt kein Panzer auf einen zu. Die Ukraine ist lebensgefährlich, weil die russische Armee mit dem Arsenal einer gigantischen Streitmacht anrückt.
Afghanistan und die Ukraine sind zwei völlig unterschiedliche Welten. Wenn die Russen aus der Ukraine abziehen würden, wäre die zwar verwüstet, aber immer noch eine Demokratie, wo Leute gerne leben.Aus Afghanistan sind die Ausländer abgezogen und das Ergebnis war, dass alles kollabiert ist. Weil es weder eine Demokratie gab, noch eine Schicht von Leuten, die das Land tragen könnte, keine Wirtschaft, die es ernährt, und keinen funktionierenden Staat.
Was sollte der Westen tun, um in Afghanistan zu helfen, mit den Taliban verhandeln?
Der Westen hat das selbe Problem wie die UNO – wir können die Herrschaft der Taliban nicht beenden, diese sind gewissermaßen die Geiselnehmer ihrer Bevölkerung. Aber können wir es moralisch verantworten, die Leute hungern zu lassen? Ich sage Nein.
Mit den Taliban zu verhandeln ist der einzige Weg, wenn man nicht die Verantwortung übernehmen will, dass sich 40 Millionen nicht ernähren können.
In die Nachbarländer können die Menschen nicht mehr fliehen, da die Grenzen extrem gesichert wurden in den letzten 10 Jahren; mit sechs, sieben Meter hohen Zäunen. Die Menschen sitzen in der Falle.
Braucht es mehr Geld?
Mehr Geld ist nicht der Punkt. Man müsste hinschauen, wo es Menschen gibt, mit denen man Infrastrukturprojekte vorantreiben, Schulbesuch für Mädchen oder Alphabetisierungskampagnen organisieren kann. Solange man nicht die Gesamtmacht in Frage stellt, ist auf lokaler Ebene sehr viel möglich, die Korruption, die früher alles geshreddert hat, ist so gut wie weg.
Wenn Stromversorgung für Dörfer sichergestellt wird oder Wasserversorgung für Bauern, dann profitieren zwar auch die Taliban. In erster Linie profitieren aber die Leute, die abends Licht haben und die ihre Äcker bearbeiten können.
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