Referendum wird zu Votum über Mursi

Im Zeichen des Konflikts zwischen Islamisten und Säkularen wird über eine neue Verfassung abgestimmt.

Ja; nein; Boykott oder Teilnahme – lange hatten sich die Gegner von Präsident Mursi gewunden, wie mit dem Referendum über die neue Verfassung zu verfahren sei. Nach Tagen der Proteste und nach einer Woche von Zusammen-stößen zwischen Regierungsgegnern und Muslimbrüdern gab es am Samstag dann aber unerwartet wenige Berichte über Auseinandersetzungen. Die Jugend­bewegung 6. April kündigte an, sich zunächst vom besetzten Tahrir-Platz zurückzuziehen, um die Abstimmung nicht zu gefährden. Beinahe einhelliger klang letztlich der Tenor in den Reihen der Opposition: Geht zur Abstimmung und stimmt dagegen. Ein Boykott spiele nur den Muslimbrüdern in die Hände. Wenig später klang es ebenso mit einer Stimme aus den Reihen der Oppo­sition: Der Vorwurf von Wahlfälschungen seitens der Regierung. Die Menschen kamen jedenfalls in Scharen, die Wahllokale blieben daher länger geöffnet.

51 Millionen Ägypter sind insgesamt zur Abstimmung berechtigt. Bei der ersten Runde am Samstag wurde zunächst nur in zehn Provinzen abgestimmt. Vor allem aber in den großen Städten wie Kairo oder Alexandria sowie auf dem Sinai. Kommenden Samstag findet die zweite Runde in den verbliebenen 17 Provinzen statt. Das, weil sich wegen des Boykotts der mit Mursi massiv zerstrittenen Richter zu wenige Juristen für die Überwachung der Abstimmung fanden.

Ägypten ist über den Entwurf zum neuen Grundgesetz gespalten. Säkulare, Linke, Liberale und Christen bemängeln, dass das von den Muslimbrüdern gemeinsam mit den Salafisten in der Verfassungsgebenden Versammlung durchgepeitschte Gesetzeswerk massiv die Handschrift der Islamisten trägt. Auch, weil sich alle anderen Gruppen angesichts der Übermacht der beiden islamistischen Fraktionen in dem Gremium zurückgezogen hatten. Das Resultat: Ein Gesetz, das laut seinen Gegnern Grundrechte einschränke, die Gleich­berechtigung der Frauen nicht erwähne, die Gründung unabhängiger Gewerkschaften verbiete und die islamische Rechtssprechung gegenüber der weltlichen aufwerte. Wut schürt zudem auch Mursis unmittelbar geäußerter Machtwille. Der Präsident verschaffte sich per Dekret die Kontrolle über die Justiz. Die Abstimmung wurde derart auch zu einem Votum über Mursi selbst.

Muslimbrüder und Salafisten agitierten im Vorfeld der Abstimmung massiv für die Verfassung. Zugleich schickten sie ihre Anhänger gegen Mursis Gegner auf die Straße. Es kam zu blutigen Auseinandersetzungen, bei denen min-destens acht Menschen starben. Seit Tagen stehen wieder Panzer in den Straßen der großen Städte. Am Samstag sicherten 300.000 Soldaten und Polizisten die Abstimmung.

An deren Ausgang hängt viel. Wird die Verfassung angenommen, stehen in den kommenden zwei Monaten Parlamentswahlen an. Wird sie abgelehnt, heißt es zurück an den Start. Dann muss eine neue Verfassungs­gebende Versammlung gewählt werden.

Die Ultras des Kairoer Fußballklubs Al Ahly sind – bewaffnet mit Steinen, Stöcken und Molotowcocktails – der „militärische“ Arm der Proteste in Ägypten. Sie bestehen aus mehreren Gruppen, die gemeinsam die zweitgrößte zivilgesellschaftliche Organisation des Landes (hinter den Muslimbrüdern) ausmachen. Ihre Zahl wird auf über 20.000 geschätzt. „Vor allem schlecht gebildete, arbeitslose, frustrierte Jugendliche sehen oft keine andere Chance“, erklärt James M. Dorsey. Der international tätige Journalist und Betreiber des Blogs „The Turbulent World of Middle East Soccer“ sprach mit dem KURIER über...

... die Relevanz von Al Ahly
Al Ahly ist der wohl erfolgreichste Klub in ganz Afrika. Er wurde vor mehr als einem Jahrhundert als anti-britischer, anti-monarchistischer, nationalistischer Fußballklub gegründet. Die Fangemeinde von Al Ahly wird im In- und Ausland auf rund 50 Millionen geschätzt. (Ägypten hat ca. 80 Mio. Einwohner).

... die politische Zugehörigkeit der Fans
Die Ahly-Ultras sind keine politisch homogene Gruppe. Die Loyalität zum Klub und der Widerstand gegen die Sicherheitskräfte eint sie. Sie sind gegen Korruption, Mubarak-Freunde, und pro Palästina. Aber abgesehen davon haben sie verschiedenste politische Sichtweisen. Man kann nicht sagen, sie sind für oder gegen Islamisten. Viele der Anführer sind Anarchisten – sie sind allergisch gegen autokratische Strukturen.

... den Wandel der Fans zur politisch militanten Gruppierung
Fußball war das Einzige, was eine ähnliche Leidenschaft wachrief wie die Religion. Es war wie mit der Moschee: Vom Stadion können sie nicht alle ins Gefängnis stecken. Mubarak wollte die Stadien kontrollieren, weil er die öffentliche Meinung dort nicht im Griff hatte. Die Fans waren bereit, ihm die Stirn zu bieten. Um 2005 kamen sie in Kontakt mit Ultra-Gruppen in Serbien und Italien. Sie stimmten sich mit deren Grundsätzen ab. Ab 2007 kamen Pyrotechnik, Banner, Gesänge auf, was zu Konfrontationen mit dem Sicherheitspersonal führte. In den vier Jahren vor Mubaraks Sturz gab es bei jedem Match eine Konfrontation. Die Ultras waren die einzige organisierte Gruppe, die es mit dem Regime aufnehmen konnte. Sie sprachen sich mit den Demonstranten ab und spielten so eine Schlüsselrolle in der Revolte. Sie sorgten dafür, dass die Angst abgebaut wurde und dienten als Pufferzone. Denn sie standen in der ersten Reihe – sie hatten die Erfahrung. Und die Furchtlosigkeit. Und die Entschlossenheit. Nach außen gaben sie sich unpolitisch, doch unter der Hand sagten die Anführer ihren Leuten: „Das ist die Chance, auf die wir gewartet haben!“

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