Die Kluft, die bis in Familien reicht

Das Land ist in Lager gespalten. Wer eine andere Ideologie als die Eltern vertritt, hat es schwer

Ein riesiger Graben zieht sich durch das Land am Nil. Am Tahrir-Platz feierten und demonstrierten in den vergangenen Wochen Hunderttausende zur Unterstützung des Militärs. Um den Platz vor der Rabaa Moschee, ein paar Kilometer weiter, campieren, protestieren und werben andere für die Unterstützung des geschassten Präsidenten Mohammed Mursi.

Die ägyptischen Zeitungen, TV-Sender und Websites sind polarisiert wie noch nie. In Geschäften und auf der Straße kommt es in ganz alltäglichen Situationen zu Streitgesprächen. Doch die Spaltung macht nicht vor Gesellschaftsgruppen oder Bildungsschichten halt. Besonders schmerzhaft ist es, wenn die Ideologie-Kluft bis in die Familie reicht.

Der 33-jährige Telekommunikationsunternehmer Mohamed Mustafa aus Kairo liegt im Streit mit seiner Familie. Vater, Mutter und Schwester sind Anhänger des Militärrats. Mustafa ist Liberaler. Er demonstriert im anwachsenden „dritten Lager“ gegen Muslimbrüder, Militärrat und die Rückkehr der Kräfte des alten Regimes.

Die Mustafas leben gemeinsam in einer Wohnung. „Meine Verwandten glauben, wenn ich etwas gegen Armeechef Al-Sisi sage, dann ergreife ich Partei für die Muslimbrüder. Aber das tue ich nicht“, sagt er zum KURIER. „Meine liberale Einstellung heißt doch nicht, dass ich glaube, die Muslimbrüder seien Engel! Aber das versteht meine Familie nicht.“

„Zu Recht eingesperrt“

Ähnlich geht es dem 23-jährigen Aktivisten Ahmed Douma. Während er auf der Straße, in TV-Shows und via Internet gegen den Präsidenten Mursi wetterte, grollte daheim sein Vater. Die Familie kommt vom Land. Alle – bis auf einen – sind Anhänger der Muslimbrüder und strenge Muslime. „Seine Worte gehen zu weit“, sagt sein Vater zur BBC. „Das ist gegen unsere Tradition und fern von allem, was akzeptabel ist.“ Ahmed ist seinem Vater zu „unverblümt“. Als Ahmed Präsident Mursi vor Kameras einen Mörder nannte, wurde er – als die Muslimbrüder noch im Amt waren – festgenommen. Der Vater besuchte ihn zwar in Haft, nannte die Strafe aber „angemessen“.

Mustafa und Ahmed sprechen immerhin noch mit ihren Familien. Doch fast jeder, der in diesen Tagen demonstriert, kennt jemanden, der im Streit mit seiner Familie verstoßen wurde.

Mustafas Freund, ein Journalist, versprach, nie mehr über Politik zu reden, nachdem sein Cousin bei Protesten der Muslimbrüder getötet worden war. Andere lassen sich den Mund nicht verbieten – der Preis ist die Entfremdung von ihren Familien.

Gespaltene Medien

Auch die Medien sind gespalten – schon vor der Absetzung Mursis. „Es gibt keinen Sender, keine Zeitung, die neutral berichtet“, sagt Mustafa. Er informiert sich längst nicht mehr durch ägyptische Medien. Die sind in ein Pro- und ein Anti-Muslimbruderschafts-Lager gespalten. Viele Medien unterstützen das Militär und berichten völlig kritiklos.

Die Sprecherin der Muslimbrüder in Großbritannien, Mona alQazzaz beschreibt das so: „Zeitungen und TV-Sender, die dem Militär nicht freundlich gesinnt sind, wurden weniger als eine Stunde nach dem Coup d’État geschlossen.“ Ebenso das Al Jazeera Büro in Kairo.

Das Militär wurde von Millionen und Abermillionen Menschen zum Einschreiten gebeten, die allesamt Angst davor hatten, in Chaos und Gewalt abzugleiten“, sagte US-Außenminister John Kerry am Donnerstag.

Da war sie – endlich –, die Positionierung der USA zum Sturz des ägyptischen Präsidenten Mohammed Mursi. Fast einen Monat haben die Amerikaner auf eine Definition warten lassen. War es nun ein Militärcoup, der den Präsidenten und die Regierung Ägyptens nach nur einem Jahr zu Fall gebracht hat?

Für Washington nicht. Das Militär habe die Macht nicht dauerhaft an sich gerissen. Es gebe jetzt eine zivile Übergangsregierung. „Letztlich wurde so die Demokratie wiederhergestellt“, sagte Kerry eindeutig. Diese Einschätzung erlaubt es Washington auch, die Militärhilfe für Kairo (1,3 Milliarden Dollar jährlich) aufrecht zu erhalten.

In Deutschland gab es Kritik an Kerrys Äußerungen. Der außenpolitische Sprecher der FDP, Rainer Stinner, warf Kerry ein „selektives Demokratieverständnis“ vor; sein SPD-Kollege Rolf Mützenich sagte, das Vorgehen der Militärs habe die Lage in Ägypten eher verschärft. Außenminister Guido Westerwelle, der gestern aus Kairo abreiste, bemühte sich zu beschwichtigen: „Die Amerikaner versuchen wie wir, die Lage zu beruhigen.“

Gratwanderung für EU

Die EU steht vor einem Dilemma, wie ein Diplomat gegenüber dem KURIER sagt: „Wir sind keine Freunde von Mursi oder der Muslimbrüder und wir glauben auch nicht, dass sie unsere Werte vertreten. Aber sie sind nun einmal gewählt.“ Deswegen sei EU-Chefdiplomatin Ashton diese Woche auch zu Mursi geflogen. Sich von ihm zu distanzieren, könnte ein falsches Signal senden: „Die Botschaft wäre: Demokratie ist nichts für euch – egal, wer gewählt ist, es wird früher oder später den nächsten Umsturz geben.“

Gleichzeitig gibt es Überlegungen, die den Äußerungen Kerrys nahe kommen: Angesichts der Demonstrationen und Proteste habe sich die Frage nach Mursis demokratischer Legitimation gestellt; er sei hier letztlich „beratungsresistent“ gewesen.

Um Stabilität in Ägypten zu erreichen, wird die EU wohl als „Umweg“ auch die Übergangsregierung mit Rückendeckung des Militärs akzeptieren – für eine gewisse Zeit. „Klar ist“, sagt ein Diplomat, „dass das keine langfristige Lösung sein kann“.

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