Aderlass in Europas ärmstem Land
Wie man ein Baby anfasst und es wickelt, dass man es nicht mit Pralinen füttern darf oder wie man schwanger wird – all das hat Olga nicht gewusst. Jetzt ist die 16-Jährige Mutter einer fünf Monate alten Tochter und muss erst noch lernen, was „leben“ heißt. Vor allem aber will das moldawische Mädchen ihrer kleinen Vlada ein Schicksal wie ihr eigenes ersparen: Leben im staatlichen Waisenhaus; eine Mutter, die ins Ausland verschwand und nie wieder auftauchte. Oder, wie es Tausende Kinder in den vergangenen Jahren durchmachen mussten: In den Straßen und Kanalsystemen der Hauptstadt Chisinau bettelnd, frierend und hungernd ums Überleben zu kämpfen.
Zusammen mit zehn anderen jungen Frauen hat Olga Obdach im Mutter-Kind-Heim der Caritas gefunden. Bis zu einem Jahr dürfen sie alle hier bleiben, ohne sich Sorgen um Miete, Essen und Arztrechnungen zu machen. Dann sollen sie mit Hilfe ihrer Betreuerinnen wieder so weit auf die Beine kommen, dass sie auch im rauen sozialen Klima Moldawiens überleben können. 17 junge Frauen und ihre Kinder haben diesen Sprung vom Mutter-Kind-Heim ins Leben bereits geschafft.
Auf den ersten Blick ist die blanke Not im ärmsten Staat Europas nicht zu spüren. Große Geländewagen deutscher Provenienz donnern durch die verschneiten Straßen der Hauptstadt, im Zentrum schießen neue Wohnblöcke in die Höhe, ausländische Banken haben Filialen eröffnet. Doch den Reichtum der ex-sowjetischen Teilrepublik Moldawien teilen sich einige wenige Businessleute und vermögend gewordene Gefolgsleute diverser Politiker.
Bittere Not
Wer nicht dazu gehört, und das sind 90 Prozent der 3,5 Millionen Einwohner, ist bitterarm. Mit einem Durchschnittslohn von umgerechnet 185 Euro kann keine Familie überleben, auf rettende Sozialleistungen des Staates kann niemand hoffen.
Für viele der einzige Ausweg, aus einem Land ohne Rohstoffe, nahezu ohne Wirtschaft, ohne ausreichende Arbeitsplätze und nahezu ohne Perspektiven: auswandern. Über eine Million Moldawier haben das Land in den vergangenen zwanzig Jahren verlassen, ein Viertel der Bewohner im arbeitsfähigen Alter ist weg.
Traurige Generation
„Wer von euch hat zumindest einen Elternteil im Ausland?“, fragt die Lehrerin ihre Klasse in der Schule von Ciocana, einem der ärmsten Stadtviertel von Chisinau. Die Arme von einem Viertel der Mädchen schießen in die Höhe. „Wo sind sie?“, will die Lehrerin wissen: Italien, Frankreich, Russland.
Freiwillig absolvieren die Mädchen hier von der Caritas finanzierte Berufsbildungskurse. Nähen und kochen stehen ebenso auf dem Programm wie Kurse über Menschen- und Kinderrechte. Das Thema „Emigration“ wird heute diskutiert und die Frage, was alles in der Heimat Moldawien schön ist. „Es ist friedlich“, ruft eine Schülerin, „die Natur ist nicht zerstört“, meint eine andere. Sie alle, da sind sie sich einig, lieben ihre Heimat. Zwischenfrage: „Wer von euch würde auswandern?“ Zwei Drittel der Mädchen zeigen auf. Die 16-jährige Bulgac überlegt nicht lange: „Ich möchte studieren und dann arbeiten. Aber bei uns findet man keine Arbeit. Ich will ein besseres Leben haben.“
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