Und überraschte: „Es gibt kein Wachstum ohne Umverteilung“, sagte er und forderte eine Abkehr von dem, was sein Vor-Vorgänger als „Abenomics“ geprägt hatte: Mit billigem Geld, schuldenfinanzierten Konjunkturspritzen und dem Versprechen von Strukturreformen wollte er Japan aus der jahrzehntelangen Deflation und Stagnation führen – und schaffte das durchaus. Selbst nach seinem Rücktritt hat Abe noch viel Macht in seiner Partei. Wie schwierig es ist, von seinem Kurs abzugehen, zeigt der Ausflug Kishidas in – für japanische Verhältnisse – sozialdemokratische Gefilde: Kishida, der einen „neuen Kapitalismus“ forderte, sorgte damit an der Börse in Tokio für die längste Abwärtssträhne des Nikkei-Index 1 seit 2009, geriet unter starke Kritik seitens der Wirtschaftstreibenden.
Allerdings macht die Überalterung der japanischen Gesellschaft auch der Wirtschaft zu schaffen. Ein Drittel der Bevölkerung ist älter als 65 Jahre. Kishida ruderte prompt zurück: „Erst Wirtschaft, dann Steuererhöhungen“, sagte er, sehr zur Freude des Marktes.
Wirtschaftlich ruderte er also wieder in Richtung Abe-Kurs, außenpolitisch ist der langjährige Außenminister auf Linie: Zuletzt vermittelte er den Eindruck eines sicherheitspolitischen „Falken“, wohl um sich die Unterstützung vom Kreis um Abe zu sichern.
Kishida, der wie Abe der nationalistischen Lobbyorganisation Nippon Kaigi („Japankonferenz“) nahesteht, will Japans Verteidigungskapazitäten ausbauen und das Militärbudget weiter aufstocken. Er unterstützt so wie schon seine Vorgänger die enge Sicherheitsallianz mit der Schutzmacht USA.
Zugleich will er auch mit anderen demokratischen Partnerstaaten in Europa und Asien einen Gegenpol zum wachsenden Machtstreben Chinas in der Region schaffen. Die Gebietsansprüche Pekings im Südchinesischen Meer bereiten Tokio Sorgen, auch wenn japanische Inseln nicht betroffen sind. Jedoch ist China ein wirtschaftlich bedeutender Partner Japans – und umgekehrt. Da verwundert es nicht, dass die Korrespondenz zwischen Xi Jinping und Kishida äußerst höflich und blumig ausfällt. Die Realität sieht freilich anders aus. Das zeigt auch die erste Auslandsreise von US-Außenminister Anthony Blinken, der im Frühling nach Tokio flog.
Die USA sehen Japan als engen Partner im Konkurrenzkampf mit der Volksrepublik. Doch das waren nicht die einzigen Gründe für den Besuch: Zwischen Südkorea und Japan – beide wichtige US-Verbündete – herrscht seit Jahren eine angespannte Stimmung. Südkorea fordert von Japan Reparationszahlungen: Fast acht Millionen Koreaner sollen von Japan im Zweiten Weltkrieg als Zwangsarbeiter oder Prostituierte ausgebeutet worden sein. Eine Forderung, die in Tokio auf Ablehnung stößt.
Es ist auch hier nicht zu erwarten, dass Kishida vom Kurs Abes abgeht. In einem Punkt wird er es jedoch müssen: Die Corona-Pandemie zeigte in Japan schonungslos auf, wie sehr es im Bereich der Digitalisierung aufholen muss. Im Digitalreport des European Centre for Digital Competitiveness liegt Japan hinter Deutschland (das in Europa nur vor Albanien liegt). Noch immer ist die Abhängigkeit von Faxgeräten, handgeschriebenen Dokumenten und Tintenstempeln zu groß. Die LDP hat bereits erste Initiativen gestartet – dies ist Kishidas Chance, aus Abes mächtigem Schatten zu treten.
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