70-Jahr-Jubiläum: "Hirntote" NATO lebendiger denn je
Totgesagte leben länger: So zumindest sieht es NATO-Chef Jens Stoltenberg, der von Emmanuel Macrons drastischer Diagnose über den Zustand der NATO nichts hören will. Als „hirntot“ hatte der französische Staatschef vor Kurzem das westliche Militärbündnis bezeichnet. Oder anders gesagt: Als veraltet, verbraucht und neben der Spur.
Noch vor dem heute in London beginnenden NATO-Gipfel aber hörte Stoltenberg das Herz der NATO kräftig schlagen.
Nämlich in Form des Bekenntnisses ihrer 29 Mitgliedsstaaten zum Bündnisfall nach Artikel 5: „So lange potenzielle Gegner wissen, dass ein Angriff auf einen Verbündeten zu einer Antwort des ganzen Bündnisses führt, so lange wird uns kein Gegner angreifen“, sagte er. Genau diese Verpflichtung – alle für einen, einer für alle – mache die NATO zur „stärksten Militärmacht der Welt“.
Daran, so Stoltenberg, hätten sich alle Bündnisstaaten zu halten – auch Frankreich. Erst ein einziges Mal in seiner 70-jährigen Geschichte hat die NATO den Bündnisfall ausgelöst: Nach den Terroranschlägen des 11. September 2001.
Herausforderung aus China
„Das geht einfach gar nicht, Artikel 5 infrage zu stellen“, sagt auch Jamie Shea, Historiker und NATO-Experte gegenüber dem KURIER. „Dieser Artikel ist das Wichtigste, das Herzstück des Bündnisses.“
Als geradezu paradox erachtet der langjährige frühere Sprecher der Miliarallianz denn auch, dass Macron die NATO attackiert, „während sie doch aktiver ist denn je“.
Tatsächlich agiert die gewaltige Militärmaschine gut geölt. Gemeinsam wird geübt und geplant, stärkere Verbände werden an die Ostgrenze zu Russland verlegt. Sie stellt sich auf den neuen, mächtigen Herausforderer China ein, auf Cyberangriffe, auf hybride Bedrohungen.
Keine Rede von einem Abzug amerikanischer Soldaten aus Europa, im Gegenteil. Auf dem Boden der militärischen Realitäten ist die NATO quicklebendig.
Die Ausgaben steigen
Nach Jahren des Sparens steigen – nicht zuletzt aufgrund des massiven Drucks des polternden US-Präsidenten Donald Trump – die Verteidigungsausgaben wieder. So werden die 29 NATO-Staaten bis Ende 2020 zusätzlich 130 Milliarden Euro, bis Ende 2024 sogar zusätzliche 400 Milliarden Euro in das Sicherheitsbündnis einzahlen.
„Nach fast vierzig Jahren Tätigkeit in der NATO habe ich jede nur erdenkliche Krise miterlebt“, sagt Shea. „Und dabei habe ich auch gelernt: Die NATO gerät nicht in Panik, sondern wächst an Krisen.“ Wobei der britische Historiker die harsche Diagnose Macrons nicht als Krise, sondern eher als eine Art rabiaten Anstoß sehen will, die strategische Ausrichtung der NATO wieder neu zu überdenken.
1949: In Washington wird am 4. April der Nordatlantikvertrag unterzeichnet. Das Bündnis hat anfangs zwölf Mitglieder: Belgien, Dänemark, Frankreich, Großbritannien, Island, Italien, Kanada, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, Portugal und die USA.
1952: Mit Griechenland und der Türkei vergrößert sich die Allianz auf 14 Mitglieder.
1955: Die Bundesrepublik Deutschland wird Mitglied.
1957: Angesichts der wachsenden Konfrontation mit der Sowjetunion verabschiedet die NATO ihre Strategie der „massiven Vergeltung“: Jeder Angriff sollte demnach mit einem vernichtenden atomaren Gegenschlag beantwortet werden.
1966: Frankreich verlässt unter Präsident Charles de Gaulle das integrierte Militärkommando des Bündnisses, um sich die alleinige Befehlsgewalt über seine Atomstreitmacht zu sichern.
1967: Das NATO-Hauptquartier wird von Paris nach Brüssel verlegt. Das Bündnis schwenkt auf die Militärstrategie der „flexiblen Erwiderung“ um. Sie sieht bei einem Angriff mit konventionellen Truppen nicht automatisch einen Einsatz von Atomwaffen vor, sondern ein abgestuftes Vorgehen.
1979: Als Reaktion auf sowjetische SS-20-Raketen kündigt die NATO die Stationierung von atomwaffenfähigen Raketen und Marschflugkörpern in Westeuropa an. Gleichzeitig werden Moskau Verhandlungen über die Begrenzung atomarer Mittelstreckenraketen angeboten (NATO-Doppelbeschluss).
1982: Spanien tritt dem Bündnis bei.
1983: Die USA beginnen mit der Stationierung von Pershing-II-Raketen und Marschflugkörpern in mehreren NATO-Staaten, darunter die Bundesrepublik.
1987: Die USA und die Sowjetunion schließen den INF-Vertrag zur Abschaffung atomarer, landgestützter Mittelstreckenraketen und Marschflugkörper mit Reichweiten von 500 bis 5500 Kilometer.
1991: Mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion wird auch der 1955 als Gegenbündnis zur NATO gegründete Warschauer Pakt aufgelöst.
1994: Bei der Durchsetzung einer UN-Flugverbotszone über Bosnien schießt die NATO vier serbische Militärmaschinen ab. Es ist die erste Kampfhandlung in der Geschichte des Militärbündnisses.
1995: Nach dem Friedensabkommen von Dayton zum Bosnien-Krieg überwacht die NATO-geführte Ifor-Truppe dessen Einhaltung.
1997: Das westliche Militärbündnis vereinbart mit Moskau die NATO-Russland-Grundakte. In ihr sagt die NATO zu, auf eine dauerhafte und umfangreiche Stationierung von Truppen in Osteuropa zu verzichten.
1999: Die NATO greift mit massiven Luftangriffen gegen Serbien in den Kosovo-Konflikt ein. Zehn Jahre nach dem Fall der Berliner Mauer treten mit Tschechien, Ungarn und Polen erstmals ehemalige Ostblockländer bei.
2001: Nach den Terroranschlägen vom 11. September wird zum bisher einzigen Mal die Beistandsklausel nach Artikel 5 ausgelöst. Das Bündnis entsendet daraufhin Awacs-Aufklärungsflugzeuge in die USA.
2003: Die NATO übernimmt die Führung über den Kampfeinsatz gegen die radikalislamischen Taliban in Afghanistan.
2004: Das Bündnis nimmt Bulgarien, Rumänien, die Slowakei, Slowenien sowie die ehemaligen Sowjetrepubliken Estland, Lettland und Litauen auf.
2009: Frankreich kehrt wieder voll in die Militärstrukturen zurück. Kroatien und Albanien werden neue Mitglieder.
2011: Luftangriffe unter NATO-Führung tragen zum Sturz von Libyens Machthaber Muammar al-Gaddafi bei.
2014: Nach der Annexion der Krim durch Russland beschließt das Bündnis eine massive Verstärkung seiner Truppenpräsenz in Osteuropa. Gleichzeitig legen die NATO-Mitglieder das Ziel fest, ihre Verteidigungsausgaben bis 2024 „Richtung zwei Prozent“ der Wirtschaftsleistung zu steigern.
2017: Montenegro wird 29. NATO-Mitglied. Die NATO tritt auf Druck der USA der internationalen Koalition gegen die Jihadistenmiliz IS bei.
2019: Die USA kündigen den INF-Vertrag mit Russland, dem sie vorwerfen, mit neuen Marschflugkörpern gegen das Abkommen zu verstoßen. Nach Beilegung des Namensstreits mit Griechenland soll Nordmazedonien 2020 das 30. Mitglied der Allianz werden.
Wobei Macron auch hierbei heftiger Gegenwind entgegen bläst. Nicht China und nicht Russland seien die Feinde, hatte der französische Präsident behauptet, sondern der Terrorismus. Doch da können die anderen NATO-Mitglieder nicht mit. Besonders Polen und die baltischen Staaten reagierten empört.
Linie gegen Russland
„Nach den Krim-Ereignissen und der Ukraine ging es der NATO vor allem darum, eine gemeinsame, solide Linie gegen Russland aufzubauen und zu halten“, schildert NATO-Expertin Kristine Berzina vom German Marshall Fund in Brüssel. „Von Russland gehen noch immer reale Sicherheitsbedrohungen aus“, betont die Expertin.
Daher sei nicht nachvollziehbar, die Beziehungen zu Russland neu aufzusetzen, wie der französische Präsident es fordert, „solange Russland sein Verhalten nicht ändert“.
Macron könne zufrieden sein, „dass er mit seinem Torpedo gegen die NATO die interne Diskussion angefeuert hat“, meint Berzina. „Aber beim Gipfel in London wird es nicht sehr harmonisch werden, wenn er weiter für seine eigenen Prioritäten pusht.“ Und dazu zähle auch eine viel größere Rolle für die eigene, europäische Verteidigung.
„Ein Europa, das sich selbst verteidigen kann – davon sind wir noch sehr, sehr weit entfernt“, gibt Jamie Shea zu bedenken. Und darum ist es an ihrem 70. Geburtstag der NATO so wichtig, zu wissen, warum die NATO noch immer wichtig ist: Ohne NATO keine effiziente europäische Verteidigung. Und ohne USA keine NATO“, führt Shea aus.
Deshalb, so der Experte, sei es eine der bedeutendsten Aufgaben des Bündnisses, die USA an Bord zu halten.
Türkische Blockade
Für Aufregung hatte im Vorfeld des Gipfels einmal mehr die Türkei gesorgt. Ankara droht mit der Blockade eines Verteidigungsplans für das Baltikum und für Polen. Mit dem Veto will Ankara die anderen Bündnisstaaten dazu zwingen, den jüngsten Einmarsch der türkischen Armee in Syrien abzusegnen.
Doch was schon wie die nächste Krise anmutet, verortet Jamie Shea unter kalkulierter öffentliche Aufregung. Diese Pläne gebe es längst, sie müssten nur erneuert werden, sagt der Ex-NATO-Sprecher. „Und ich habe keine Zweifel, dass dieses Thema beim Gipfel gelöst wird.“
"Untersuchen lassen"
In bester Stimmung wird der Geburtstaggipfel zu Ehren der 70-jährigen NATO dennoch kaum enden. Dafür sorgte schon im Vorfeld Macrons Kritik am NATO-Partner Türkei. Ankara könne den Rest der Militärallianz nicht einfach mit seinem Einmarsch in Syrien vor vollendete Tatsachen stellen und dann Solidarität vom Bündnis einfordern, ärgerte er sich.
Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan reagierte darauf gewohnt rau: Macron solle sich doch, empfahl er seinem französischen Amtskollegen, „auf Hirntod untersuchen lassen“.
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