60 Jahre EU: "Nicht reif für die Rente"

Die Regierungschefs versprachen in Rom einen Neustart Europas. In vielen Städten gab es Pro-EU-Kundgebungen.

Das Wetter ist prächtig, auch die Stimmung der 27 Staats- und Regierungschefs lässt an diesem Tag nichts zu wünschen übrig. Für die Feierlichkeiten aus Anlass des 60. Jahrestages der Unterzeichnung der Gründungsverträge der Europäischen Union in Rom am 25. März 1957 schlossen Europas Spitzenpolitiker ihre Reihen. "Es gibt Aufbruchstimmung, jetzt können wir über unsere Zukunft nachdenken", jubelte Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker.

"Hoffentlich freut er sich nicht zu früh", erwiderte einer der Teilnehmer des Jubiläumsgipfels. Nächsten Mittwoch, wenn die Briten offiziell ihren Scheidungsantrag in Brüssel einreichen, könnte es mit der momentanen Euphorie der Mitgliedsländer schon wieder vorbei sein. Danach wird sich sehr rasch zeigen, ob der Klub der 27 bei den harten Austrittsverhandlungen mit dem Vereinigten Königreich an einem Strang ziehen wird.

Am Samstag, bei dem EU-Sondergipfel in der Ewigen Stadt, wurden lähmende Querelen und die Dauerkrise der EU jedenfalls für kurze Zeit vergessen, die Erneuerung des Versprechens der Gründerväter der EU, Friede, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, stand im Vordergrund und beherrschte den Tag. Unter den Klängen der Europa-Hymne, Beethovens Neunte Sinfonie "Ode an die Freude", unterzeichneten die Staats- und Regierungschefs die "Erklärung von Rom" – ein Bekenntnis, gemeinsam Verantwortung für die Zukunft der EU zu tragen.

Wehmütig beklagten einige EU-Granden die Abkehr Großbritanniens von der Europäischen Union. Manche beklagten auch das Fehlen der britischen Premierministerin Theresa May bei dem Festakt im Konservatorenpalast auf dem Kapitol. Juncker nannte den geplanten Brexit "eine Tragödie". Der Austritt sei "traurig. Ich finde mich eigentlich nicht damit ab, dass die Briten die Europäische Union verlassen".

Demos für & gegen Europa

Unter strengsten Sicherheitsvorkehrungen wurde die EU-Geburtstagsparty im Herzen der italienische Hauptstadt zelebriert. Rom glich am Samstag einer Festung. Der Stadtkern um den Kapitolhügel wurde in eine "blaue Zone" umgewandelt, nach der Farbe der europäischen Fahne, in die weder Autos noch Fußgänger hineindurften. Das Kolosseum war schon am Freitagabend geschlossen worden, die archäologischen Stätten rund um den Palatin-Hügel machten ebenfalls dicht.

Mehr als 3000 Soldaten, Carabinieri und Polizisten wurden bei Anti-Terror-Kontrollen in der ganzen Stadt eingesetzt. Unzählige Videoüberwachungsanlagen kontrollierten jede Bewegung. Hubschrauber mit Bewaffnung kreisten über dem Kapitol, Kampfjets waren startbereit. Lkw wurden aus dem Stadtzentrum verbannt. Selbst Mülltonnen entfernte die Polizei aus Sicherheitsgründen.

Einige mutmaßliche Anhänger von Anarchistengruppen mussten Rom verlassen. Mitglieder des "Schwarzen Blocks" reisten aus ganz Europa an, die Polizei befürchtete Straßenkämpfe und schwere Vandalismusakte. Viele Geschäfte waren gestern geschlossen.

Griechenlands Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis und der spanische Chef der Protestpartei Podemos (Wir können) nahmen an der Demonstration für ein stärker sozial orientiertes Europa teil. Auch NEOS-Chef Matthias Strolz kam nach Rom, um mit einer Gruppe an der proeuropäischen Kundgebung "March for Europe" teilzunehmen.

Reihum schworen die Politiker, sich mehr um Europa zu kümmern. "Wir brauchen den Mut, neu zu starten", erklärte der Gastgeber, Italiens Premier Paolo Gentiloni.

EU-Ratspräsident Donald Tusk, gewöhnlich zurückhaltend und vorsichtig, ließ sich zu einer dramatisch klingenden Aussage von Leben oder Tod der EU hinreißen: "Europa als politische Gemeinschaft wird entweder vereint sein, oder es wird überhaupt nicht sein."

Inspiriert von der Rede von Papst Franziskus Freitagabend zeigte sich Bundeskanzler Christian Kern. Er knüpfte an die Forderung des Oberhauptes der Katholischen Kirche an: "Der Papst sagte, das erste Element Europas sei die Solidarität, daran haben wir uns zu orientieren. Das zeigt die zukünftige Richtung, die wir brauchen, nämlich ein Europa der Menschen und nicht der Großunternehmen und der Märkte", betonte Kern.

Merkels Blick in die Zukunft

Die Grande Dame der Gipfelrunde, Bundeskanzlerin Angela Merkel, forderte alle auf, "den Blick in die Zukunft zu richten" und die Aufgaben abzuarbeiten. Als Schwerpunkte nannte sie einen besseren Schutz der Außengrenzen, die Herausforderungen der Digitalisierung, ein soziales Europa mit mehr Arbeitsplätzen vor allem für jüngere Menschen und eine engere Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik. "Wir haben uns verpflichtet, dies gemeinsam zu tun, manchmal vielleicht in unterschiedlichen Geschwindigkeiten, aber immer in eine gemeinsame Richtung." Damit verteidigte sie ihr Konzept für die künftige Entwicklung: Ein Ziel mit verschiedenen Geschwindigkeiten zu erreichen.

Humor bewies Luxemburgs Ministerpräsident Xavier Bettel. "60 Jahre und kein bisschen leise", beschreibt er die EU und vor allem "noch lange nicht reif für die Rente".

Mit einer erstaunlichen Meldung ließ gestern Außenminister Sigmar Gabriel (SPD) aufhorchen. Er riet Deutschland, dem größten und mächtigsten EU-Staat "ein bescheideneres Auftreten in der EU" und mehr auf kleine Länder zu hören. "Gerade die Kleinen seien wichtig, da es nicht viele Große gibt. Wer die Kleinen stärkt, stärkt auch die internationalen Organisationen", schrieb er auf Spiegel Online. Solche Töne hat man aus Berlin schon lange nicht mehr gehört, früher – unter Helmut Kohl – gehörte die Unterstützung kleiner Mitgliedsländer zur Raison d’être deutscher Europa-Politik.

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