400 Jahre Sklaverei: Ein Erbe, das die USA nicht loslässt
An der festlich herausgeputzten Ufer-Promenade vor Fort Monroe im Kleinstädtchen Hampton, wo Angler täglich nach Felsenbarsch und Stör Ausschau halten, wird Shelton Tucker heute, Sonntag, gegen die Tränen ankämpfen. Wenn um 15 Uhr am „Tag des Heilens“ vier Minuten lang die Kirchenglocken läuten, schließt sich für ihn ein Jahrhunderte alter Kreis.
Genau hier, wo die Chesapeake Bay im US-Bundesstaat Virginia das Tor zum tosenden Atlantik wird, legte Ende August 1619 die „White Lion“ (Weißer Löwe) an. An Bord laut historischen Schriften: etwa 20 Männer und Frauen. Sie waren Wochen zuvor im Königreich Ndongo im heutigen Angola gefangen genommen worden. Auf der Überfahrt von Afrika in die Neue Welt bemächtigten sich Piraten der auf der portugiesischen „San Juan Bautista“ eigentlich für Mexiko vorgesehenen menschlichen Fracht und machten sie, viel weiter nördlich, an Land zu Geld.
„Negro“ als Nachname
Es war die Premiere des Sklavenhandels, der bis Ende des Bürgerkrieges 1865 Millionen in lebenslange Zwangsarbeiterschaft führen sollte. Unter den Ersten waren ein Mann und eine Frau, die in den Urkunden als Antoney und Isabell Erwähnung finden. Sie gingen in Hampton, das damals noch Elizabeth City hieß, später in den Besitz des Tabak-Plantagen-Besitzers William Tucker über und bekamen den Nachnamen „Negro“ zugewiesen.
Der 1624 christlich getaufte Sohn des Paares, William Tucker, gilt unter Historikern als das erste afrikanische Kind in der damaligen britischen Kronkolonie an der Ostküste des Kontinents, der erst rund 150 Jahre später offiziell zu Amerika wurde. Und Shelton Tucker ist einer seiner vielen genealogisch nachweisbaren Nachfahren, die 400 Jahre nach dem Beginn der Sklaverei in den USA vor allem eines wollen: Transparenz.
„Es gab zu oft den gezielten Versuch, dieses Kapitel unserer Geschichte ungeschehen und unsichtbar zu machen“, sagte der 61-jährige Pensionist zum KURIER am Vorabend der Feierlichkeiten. In Reden, Andachten, Gospel-Konzerten, Gottesdiensten und Diskussionen gedenkt Virginia dem, was der Bundesstaat erst 2007 als „schrecklichste aller Menschenrechtsverletzungen“ offiziell eingestanden hat – „slavery“.
"Moralisches Versagen"
Die Historikerin Amanda Brickell Bellows spricht von Amerikas „moralischem Versagen, die Rechte des Individuums vor dem Profitstreben zu schützen“. Shelton Tucker ist spät auf seine Wurzeln neugierig geworden. Erst als Banker für ein Kredithaus in Chicago und später als Vertreter von Coca Cola hat der Finanz-Analyst lange in London gelebt, bevor er sich an einem historischen Ort in der Heimat niederließ. Aberdeen, ein Stadtteil Hamptons, war in den 1930er-Jahren eine begehrte, von Schwarzen für Schwarze errichtete Wohnsiedlung.
Sensationsfund
Nur wenige Kilometer von der Stelle entfernt, wo die „White Lion“ vor Anker ging, wurde vor zehn Jahren inmitten hoher Eichen eine inzwischen staatlich geschützte Sensation entdeckt. Ein bis dahin unbekannter Friedhof mit über 100 unmarkierten Grabstellen, von denen etliche bis ins 17. Jahrhundert zurückverfolgt werden können.
Am unscheinbaren Eingang macht ein Gedenkstein auf das Besondere aufmerksam: „Tucker’s Familie. Erste schwarze Familie. 1619“, ist darauf zu lesen. Unter den Bestatteten wird auch der Mann vermutet, der aus der ersten Sklaven-Ehe hervorging: William Tucker. Noch sei nicht definitiv klar, ob der Urahn Sklave war oder Schuldknecht, was nach Ablauf einer jahrelangen Arbeitsfron Freiheit bedeutet hätte.
Buch geplant
Tucker selbst lässt die Geschichte seines Familien-Stammbaums nicht mehr los. Autodidaktisch und mithilfe von Profis hat sich der Hobby-Historiker in die Archive gestürzt. In einem bald erscheinenden eigenen Buch will er die Geschichte der Tuckers als „Geschichte des Überlebens“ nacherzählen. „Wenn man diese Menschen aus dem anonymen Schatten ihres Daseins holt, wird sichtbar, wie enorm sie zum Wohlstand dieses Landes beigetragen haben. Sklaven waren die Säulen, auf denen der Kapitalismus ruht.“
„Um 1860 herum, als der Bürgerkrieg ausbrach, waren rund vier Millionen Sklaven vor allem im Süden auf Plantagen für Baumwolle, Tabak und Zuckerrohr eingesetzt“, sagt Shelton Tucker.
All das fällt zeitlich zusammen mit einem Wiederaufflammen der parlamentarischen Debatte über die Frage, ob Millionen Schwarze für das Leid, das ihre als Sklaven gehaltenen Vorfahren in Virginia und anderen Teilen Amerikas erlitten haben, finanzielle Wiedergutmachung erhalten sollen.
Bei einer Experten-Anhörung vor wenigen Wochen im Kongress in Washington war es der schwarze Erfolgsautor Ta-Nehisi Coates, der die Langzeitschäden aufzeigte, die nach der Sklaverei soziale Benachteiligung ausgelöst hätten. Schwarze Durchschnittsfamilien verfügten heute im Schnitt über ein Zehntel des Vermögens einer weißen. Schwarze Arbeiter bekommen nicht mehr als 70 Prozent des Stundenlohns eines weißen.
Debatte um Reparationszahlungen
Das aufzuarbeiten, zunächst durch die Einsetzung einer Kommission, hält gut ein Dutzend der demokratischen Präsidentschaftskandidaten für sinnvoll. Die Republikaner zögern oder blockieren. Dass irgendwann tatsächlich Reparationszahlungen an die Ur-Ur-Ur-Ur-Enkel der Sklaven fließen, hält Shelton Tucker für unwahrscheinlich – aber zunächst für zweitrangig. „Wir sind es uns schuldig anzuerkennen“, sagt er, „dass die Kluft zwischen weißem und schwarzem Reichtum in diesem Land auf die Ursprünge der Sklaverei zurückgeht.“
Die Anfänge
Mehr als 100 Jahre vor der US-Unabhängigkeitserklärung gab es auf den Plantagen der britischen Kolonie Virginia massiven Bedarf an Arbeitern – diese wurden im frühen 17. Jahrhundert mehr und mehr als Sklaven aus Afrika geholt. Die Plantagen-Ökonomie breitete sich nach Süden und Westen aus.
Rasanter Anstieg
Der Sklavenbedarf stieg weiter an. Im Jahr 1770 schufteten in den 13 britischen Kolonien 460.742 Sklaven. 90 Jahre später waren es bereits vier Millionen – mehr als zwölf Prozent der gesamten Bevölkerung. Nach dem Sezessionskrieg (1861-1865) wurde die Sklaverei offiziell abgeschafft.
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