Busek: "In der EU kommt es auf das Hirn an"
Anfang 1995 war es so weit: Nach jahrelangen politischen Bemühungen, schwierigen Beitrittsverhandlungen, wirtschaftlichen Anpassungsprozessen und einem klaren Votum der Bevölkerung beim EU-Referendum wurde Österreich Mitglied der Europäischen Union. Im Juni 1994 votierten gut zwei Drittel der österreichischen Wähler für den Beitritt. Auch heute ist ein beachtlicher Teil skeptisch und gar nicht von der EU überzeugt.
Die Akteure von damals, Bundeskanzler Franz Vranitzky (SPÖ) und Vizekanzler Erhard Busek (ÖVP), sind sich einig: Vom Beitritt hat das ganze Land profitiert, die Wirtschaft, die Bauern, die Arbeitnehmer, die Bürger. Keine Frage, Österreich wurde offener, liberaler und diskussionsfreudiger. Die ehemaligen Regierungsvertreter wissen aber genau, dass weitere Anstrengungen nötig sind, um Österreich fit für die Zukunft zu halten. Weniger Ängste und mehr Modernisierung in Wirtschaft und Verwaltung – das schwebt Vranitzky vor. Mehr Bildung braucht das Land – das ist die Botschaft von Busek. Einen Appell haben beide an die Politiker und Parteien, nämlich europäische Entscheidungen besser als bisher zu erklären und mit den Menschen zu diskutieren. Motto: Die Zukunft Österreichs in der EU haben Politiker und Bürger selbst in der Hand.
Franz Vranitzky: "Brauchen Modernisierungsschub"
KURIER: Herr Doktor Vranitzky, was war für Sie die größte Veränderung durch den Beitritt?
Franz Vranitzky: Die wirtschaftlichen Folgen waren das Markanteste. Ein Land, das Jahrzehnte am Rand des freien Europas lebte, gehörte über Nacht zur EU. Ich habe erfahren müssen, dass wir bis dahin nicht so ganz zur westlichen Gemeinschaft gehörten. Das zeigte sich in Auffassungen und Haltungen europäischer Staaten. Wir waren teilweise wie ein Findelkind.
Was waren die Vorbehalte?
Viele haben die Neutralität nicht verstanden oder verstehen wollen. In Paris gab es unüberhörbare Vorurteile, dass zum großen Deutschland noch ein weiteres deutschsprachiges Land dazukommt.
Wer hat vom EU-Beitritt besonders profitiert?
Das ganze Wirtschaftssystem. Franz Fischler beispielsweise führte einen heldenhaften Kampf bei den Verhandlungen. Bauern befürchteten, dass Preisstützungen und Kontingentierungen zu ihrem Nachteil abgeschafft werden. Fischler hat für die Bauern maßgebliche Geldbeträge unter dem Titel agrarischer Umweltschutz herausverhandelt. Insgesamt war der Beitritt ein Modernisierungs- und Innovationsschub.
Was meinen Sie konkret?
Die Umstrukturierung der Industrie, die 1984 nach der Krise der Stahlindustrie begann, wurde durch den Beitritt unterstützt. Österreichs Wirtschaft hat die Strukturveränderungen hervorragend gemeistert.
Jeder vierte Österreicher will aus der EU austreten. Können Sie das verstehen?
Ja. In fast allen Mitgliedsländern wurde und wird keine aktive Europapolitik betrieben.
Wie kann man Bürger von der EU überzeugen?
Der Einzelne muss sich ich in den europäischen Veränderungen wiederfinden. Das wird durch Kommunikation, Information und europäisches Vorleben erreicht. Die Bürger müssen verstehen, dass die EU nicht gegen sie oder das Land gerichtet ist. Europa ist ein Prozess, in dem wir gemeinsam mit anderen Europäern unsere eigene Zukunft entwickeln.
Braucht es auch eine andere EU-Politik?
Es geht um eine klar erkennbare Politik in wichtigen Feldern. Arbeitslose können nicht den Eindruck gewinnen, dass die EU eine gemeinsame Beschäftigungspolitik betreibt, weil es die nicht gibt. Es fehlt an einer gemeinsamen Wirtschafts- und Sozialpolitik. Zu sagen, die Banken wurden gerettet und die Arbeitslosen nicht, klingt vielleicht attraktiv, allerdings wäre ohne Bankenrettung eine desaströse Kettenreaktion entstanden. Man darf ja nicht nur an den gerichtsanhängigen Hypo-Skandal denken. Nur die Politik hat ihre Aktionen in der Krisenbewältigung zu wenig plausibel erklärt.
Was braucht die EU künftig?
Vieles. Zusätzlich zur Wirtschaftspolitik eine Energie-, Außen- und Sicherheitspolitik. Die Umsetzung des Juncker-Planes erfordert Fantasie sowie ein besseres Zusammenwirken von Kommission, Europäischer Investitionsbank und EZB. Die Geldpolitik muss durch eine realwirtschaftlich erkennbare Fiskalpolitik unterstützt werden. Man kann nicht über Jahre hindurch bloß mit straffer Sparpolitik die Krise bekämpfen. Wenn man jahrelang nur hört, schrumpfen und sparen, können keine Zukunftshoffnungen entstehen. Wenn junge Menschen nur mit Aufnahmetests und K.-o.-Prüfungen konfrontiert sind, werden sie nicht in Zukunftsjubel fallen.
Wie sehen Sie die Zukunft Österreichs in der EU?
Das hängt davon ab, wie wir uns mit Ideen und Projekten einbringen. Wir brauchen einen Modernisierungsschub. Auf Dauer ist es nicht möglich, dass Unternehmer nur schauen, wo es die niedrigsten Löhne gibt. Das Ziel ist, höherwertige Produkte zu entwickeln, bei denen die Lohnkosten nicht eine so große Rolle spielen wie bei Massenwaren.
Wie wichtig ist eine EU-Migrationspolitik?
So wichtig wie die EU selber.
Erhard Busek: "Brauchen eine aktive Außenpolitik"
Ex-Vizekanzler fordert aktivere Nachbarschaftspolitik.
KURIER: Herr Doktor Busek, was sind für Sie die größten Veränderungen, die Österreich durch den Beitritt erfahren hat?
Erhard Busek: Man muss das in Kombination mit dem Fall des Eisernen Vorhanges sehen. Beides hat dazu geführt, dass sich das West-Ost-Gefälle in Österreich stabilisiert hat. Durch die Regionalmittel der EU haben wir ein ausbalanciertes Land. Es gab die Sorge, dass der Beitritt einen sogenannten Anschluss an Deutschland bedeutet, das Gegenteil ist der Fall. Wir haben unsere Position herausgearbeitet und sind auch sehr unterschiedlich. Das ist gut so. Die EU hat wirtschaftliche, soziale und globale Möglichkeiten gebracht. Wir würden sonst überhaupt gar nicht vorkommen.
Wer hat am meisten von der EU profitiert?
Die Wirtschaft hat sehr profitiert, auch die österreichische Landwirtschaft und wir Österreicher. Wir reisen ohne Pass und ohne Grenzen. Was ein engeres Verhältnis zu den Nachbarn betrifft, bin ich kritisch. Wir haben die Nachbarschaft nicht in dem Ausmaß genützt, wie ich es mir gewünscht habe.
Es hat die strategische Partnerschaft von Außenministerin Ferrero-Waldner gegeben?
Das ist ein mehr als unglücklicher Begriff. Wir würden schon längst eine sehr aktive Außenpolitik brauchen, um an Visegrád teilzunehmen (1991 gründeten Ungarn, Tschechien, Slowakei und Polen eine Kooperation im ungarischen Visegrád; Slowenien und Österreich sind eingeladen, Anm.). Kleinere Länder in der Mitte Europas haben gemeinsame Interessenslagen.
Sie wollen eine enge Kooperation in Mitteleuropa?
Bei 28 Mitgliedern ist das ein normaler gruppendynamischer Prozess, der sich aus der Region, der Donau, der Migrations- und der Sicherheitsfrage ganz klar ergibt.
Jeder vierte Österreicher will aus der EU austreten. Wie beurteilen Sie das?
Es waren immer zwei Drittel der Österreicher für die EU, wenn heute nur ein Viertel dagegen ist, ist die Zahl besser geworden.
Sehen Sie keine Unzufriedenheit?
Für welche Dinge ist die EU verantwortlich?, diese Frage muss beantwortet werden. Die Unzufriedenheit vieler Bürger mit der Politik und den Parteien soll man sehr ernst nehmen. Die Unzufriedenheit richtet sich gegen eine Politik, die es nicht versteht, EU-Entscheidungen so darzustellen, dass es die Bürger verstehen.
Wie soll es besser werden?
Man muss die Probleme, die Europa hat, benennen, Lösungen vorschlagen, sie diskutieren und besser erklären. Europa ist nicht nur eine Werbefrage, das wäre ja dumm. Es ist die Verantwortung der Politiker zu erklären, welche Rolle Europa spielt. Europa muss aufpassen, nicht marginalisiert zu werden: Europäer machen ja nur noch sieben Prozent der Weltbevölkerung aus und erarbeiten nur 18 bis 20 Prozent der Wirtschaftsleistung. Wofür steht Europa überhaupt? – das ist die Frage.
Wofür steht Europa?
Es kommt in der EU auf das Hirn an. Mit der Geschichte können wir uns nicht herausreden. Die Geschichte ist ambivalent, es gibt große geistige Leistungen aber auch den Kolonialismus, ein bedauerliches Produkt, unter dem wir noch heute leiden. Die Lage im Nahen Osten zeugt davon.
Was ist Österreichs EU-Zukunft?
Die Gesellschaft muss begreifen, dass wir Europäer sind. Es geht um die Fragen: Wofür stehen wir innerhalb Europas? Was ist das unverwechselbar Österreichische in der EU?
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