Ari Rath: "Schüler der Judenklasse 1B"
Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich mich in Österreich je wieder irgendwie zu Hause fühlen würde", sagt Ari Rath nachdenklich. Der legendäre, ehemalige Chef und Herausgeber der englischsprachigen "Jerusalem Post" besucht den KURIER - und schnuppert begeistert Zeitungsluft. Gestern, Dienstag, erhielt er das "Große Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich" im Parlament. Eine hohe Auszeichnung, die in dem 85-Jährigen dennoch zwiespältige Gefühle auslöst.
Rath wuchs in der Porzellangasse auf - in einer großbürgerlichen jüdischen Familie. 1938 kam er als 13-Jähriger, begleitet nur von seinem um drei Jahre älteren Bruder, in einem Kindertransport von Wien nach Palästina. Die Mutter war früh - 1929 - gestorben. Den Vater hielt man 1938 im Konzen-trati onslager Dachau fest, später in Buchenwald. (Der Papierfabrikant wurde im selben Jahr freigelassen - unter der Bedingung, binnen 36 Stunden das Land zu verlassen und auf sein Vermögen zu verzichten. Er wanderte über Kuba nach Amerika aus.) Wäre der Vater nicht verhaftet gewesen, hätte er die Buben nie alleine ausreisen lassen, sagt der Sohn rückblickend. So gesehen war das quasi ein Glück - "denn er hätte sicher gezögert". Mit Bitterkeit erzählt Rath: "Über Nacht war man vogelfrei - und vom Menschen zum Unmenschen geworden." Bis dahin wollte die jüdische Familie nichts von Palästina wissen, obwohl eine Großmutter bereits 1935 dorthi n ausgewandert war.
Doch am 11. März 1938 änderte sich alles. "Ich werde das nie vergessen: Kurt Schuschniggs historische Abschiedsrede ertönte im Radio, später dann das Horst-Wessel-Lied." Die Familie fuhr an diesem Samstagmorgen zur Großmutter in die Kochgasse. Man erwartete Hakenkreuzfahnen überall. Dass aber auch die gesamte Wiener Polizei plötzlich mit Hakenkreuzbinden ausgestattet war, das war ein Schock. "Da haben mein Bruder und ich beschlossen: Wenn unsere Welt hier zusammenbricht, dann fahren wir in ein Land, wo man uns nicht mehr vertreibt. Das war Palästina."
Doch die Welt in Wien war auch davor schon nicht mehr heil gewesen. Im September 1934 kam der knapp Zehnjährige ins Wiener Wasagymnasium, in eine separate "Judenklasse", die 1B. "Und das schon vor dem Anschluss - ein Thema, das bis heute verdrängt wird", kritisiert Rath. Ein Klassenkamerad seines Bruders war übrigens der Dichter Erich Fried.
Die Nazis raubten der Familie allen Besitz. Das Haus eines Onkels in der Wiener Muthgasse wurde Anfang 1939 von einem Architekten für 18.000 Reichsmark gekauft. Zynischerweise musste er an die Gestapo dafür 10 Prozent, 1800 Reichsmark, als "Entjudungszuschlag" zahlen. Alles archiviert. Zurückgegeben wurde es nicht. Das geschah nur bei Immobilien, die danach der öffentlichen Hand gehörten. Es gab späte Entschädigungszahlungen - "interessanterweise erst unter der Regierung Schüssel".
Rath lebte 16 Jahre im Kibbuz, studierte, arbeitete bei der zionistischen Jugendbewegung in New York und wurde eher durch Zufall Journalist. Er engagierte sich für den Nahostfrieden und die Arbeiterpartei (u. a. mit Teddy Kollek, dem legendären Jerusalemer Bürgermeister mit Wiener Wurzeln) - und blieb in Jerusalem. Er ist perfekt dreisprachig: Deutsch, Englisch, Hebräisch.
Friedhof Europa
1948 kehrte Rath erstmals in seine Geburtsstadt zurück. "Ich bin am Westbahnhof ausgestiegen, und es war, als wäre man auf einem Friedhof gelandet. Ganz Europa war ein Friedhof." Der Journalist blieb Österreich gegenüber reserviert, wie er sagt. Mit dem alten Wien hat er sich nie versöhnt - schon aber mit der neuen Generation. "Sehr beachtlich" findet Rath, dass mittlerweile keine Woche vergehe, ohne dass es in Österreich eine Veranstaltung gebe, die sich mit jüdischen Fragen beschäftigte.
Rosen streut der Ex-Journalist dem ehemaligen österreichischen Kanzler Franz Vranitzky: Mit ihm traf er 1993 erstmals in Israel zusammen. Er war es auch, der als erster österreichischer Spitzenpolitiker die Mitschuld Österreichs am Nazi-Regime bekannte. Danach begann auch das offizielle Österreich, Rath zu entdecken und zu ehren. Meist habe ihn das in Verlegenheit gebracht, bekennt er.
Mit seiner Regierung daheim ist Rath mittlerweile unzufrieden: "Deren Politik ist bedauerlich, es gibt rassistische Gesetze. Israel ist isoliert wie schon lange nicht." Der 85-Jährige, selbst kinderlos geblieben, tritt heute in Schulklassen auf, erzählt von seinem Schicksal. Und er vergisst nie zu erwähnen: "Im März 1938 lebten 180.000 jüdische Menschen in Wien, heute kaum 12.000."
Erst in den letzten Jahren bleibt Rath für längere Zeit in Wien. Vor einem Dreivierteljahr rang er mit dem Tod. Danach beschloss er, seine Memoiren zu schreiben. Sie erscheinen 2012. In der Einleitung wird stehen, was er auch bei der Ehrung am Dienstag sagte: "Ich nehme diesen Preis an im Namen einer ganzen Generation, der es leider verweigert war, jegliche Verdienste für dieses Land zu leisten. "
Kommentare