Weiterbauen am „Projekt Europa“

Europäische Union
Michael Reinprecht

Michael Reinprecht

Die europäische Integration ist das Gegengift zur Renaissance des Nationalen.

von Michael Reinprecht

über die Weiterentwicklung der EU

Die Chefpositionen der Europäischen Kommission und des Europaparlaments wurden neu besetzt. Nach einer Periode der Unsicherheit und der Selbstzweifel muss es jetzt darum gehen, nationale Partikularinteressen hintanzustellen, um mit Augenmaß und Leidenschaft weiterzubauen am „Projekt Europa“. Es gäbe viel zu tun: In Europa sind hohe Arbeitslosigkeit, prekäre Arbeitsverhältnisse von Jung-Akademikern zur Regel geworden, in vielen Mitgliedstaaten drohen weitere Sparpakete, aber der Mut zur Vergemeinschaftung von Wirtschaftspolitiken fehlt. Der reiche Norden und die Mitte Europas entfremden sich vom „armen“ Süden: die Politik spielt oft die Gelbe, auch die Rote Karte nationaler Interessen und Egoismen aus – und wundert sich dann, wenn „Brüssel“ als weit weg, der Euro als „Zwangsjacke“ und Veränderung als „EU-Diktat“ gesehen wird. Die Menschen wenden sich ab, die Bürger haben das Vertrauen in die europäischen Institutionen verloren, die Wahlergebnisse vom 25. Mai belegen das.

Überzeugte Europäer

Trotz der komfortablen Mehrheit der beiden großen Parteifamilien, der Europäischen Volkspartei und der Sozialdemokraten, wäre es höchst unklug, einfach zur Tagesordnung eines „business as usual“ überzugehen. Insofern gibt die Wieder-Wahl Martin Schulz’ zum Präsidenten des Europaparlaments und die Kür von Jean-Claude Juncker zum Chef der Europäischen Kommission Hoffnung: Beide sind „überzeugte Europäer“, die für eine Vertiefung der Union und der Integrationspolitik und einen weiteren Demokratisierungsschub der EU stehen. Auch international steht viel an: Österreich und die anderen Mitgliedstaaten können im Wettbewerb mit großen Wirtschaftsregionen wie dem pazifischen Raum, China, Japan, Indien und USA, nicht mehr alleine, nur im Verbund der EU bestehen. Am Balkan stehen mit Serbien und anderen neue Beitrittskandidaten vor der Tür. Das Verhältnis mit Russland ist neu zu ordnen, aus Nahost und dem arabischen Raum drohen sicherheitspolitische Gefahren. Energie, Umwelt und Immigration heißen die weiteren Herausforderungen. Die Verhandlungen mit Washington über das transatlantische Freihandelsabkommen TTIP laufen zäh, aber können nur von der Union als Ganzes vorangebracht werden.

Friedensprojekt

Europa ist für mich eine Herzensangelegenheit“, hatte Jean-Claude Juncker jüngst in einem Interview gesagt. Das ist wichtig. Denn Europa darf kein technokratisches Projekt sein. Europa ist ein kulturelles Projekt. Eine Wertegemeinschaft. Die europäische Integration ist das Gegengift zur Renaissance des Nationalen. Die Europäische Union steht auch für das „Nie Wieder“, für Toleranz und Menschenrechte, gegen Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie. Es ist ein Friedensprojekt, das kann – auch wenn es abgedroschen klingt – gerade jetzt in einer Phase des Neubeginns nicht stark genug betont werden. Die neue Führungscrew in Brüssel ist freilich auf den Goodwill in den 28 Hauptstädten angewiesen. Vieles mag ja auf regionaler oder auch nationaler Ebene besser und bürgernaher lösbar sein. Subsidiarität ist ein wichtiges Prinzip europäischer Politik. Dies darf aber nicht dazu führen, dass intergouvernmentale Zusammenarbeit wieder überhand nimmt in der EU und die Gemeinschaftsmethode ersetzt. Denn dies hebelt auch die parlamentarische Mitentscheidung aus und vergrößert nur das „demokratische Defizit“ der Europäischen Union. Es ist zu hoffen, dass die jetzigen Personal-Entscheidungen die nötige Schubkraft bringen, um durchzustarten und die Bürger mitzunehmen am Weiterbau Europas.

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