Was Pflege bedeutet

Barbara Kaufmann

Barbara Kaufmann

Nicht bloß aus Pflichtgefühl, sondern aus Liebe. Das weiß jeder, der pflegt.

von Barbara Kaufmann

über Pflege

Die Nacht, in der mein Vater fiel, war für die Jahreszeit ungewöhnlich warm. Draußen roch es schon nach Frühling, der Wind vom nahen Wörthersee war nicht mehr kalt und scharf wie in den Wintermonaten, sondern lau und freundlich und trug das Versprechen auf längere Tage in sich. Vielleicht ist er deshalb noch einmal aufgestanden. Trotz seines gebrochenen Beines, trotz der Krücken nach unten gegangen. Vielleicht wollte er in den Garten, ein bisschen Frühlingsluft einatmen, ein bisschen Hoffnung auf bessere Zeiten. Zehn Tage davor war mein Großvater gestorben, der Vater meiner Mutter, wenige Monate zuvor mein Großonkel, der Onkel meines Vaters. Die beiden Männer hatten Frauen hinterlassen, die nicht nur an gebrochenem Herzen litten. Mehr als 50 Jahre mit einem Menschen leben, lachen, lieben. Da reißt ein Loch auf, das nicht mehr geschlossen werden kann. Und erst dann, wenn man nichts mehr gemeinsam durchstehen muss, weil da niemand mehr ist, erst dann macht sich der Körper bemerkbar.

Über Nacht zum Pflegefall

Meine Mutter half den beiden Frauen so gut sie konnte, tröstete sie und stand noch dazu vor dem Problem, zwei Verwandte betreuen zu müssen, die nicht im gleichen Pflegeheim leben wollten. Sie hatte deshalb schlaflose Nächte. Vielleicht ist mein Vater deshalb nach unten gegangen. Um in der Küche ein Glas warme Milch mit Cognac für sie zu kochen, seine Spezialmedizin. Wenn das nicht hilft, sagte er immer, hilft gar nichts. Ihm konnte sie nicht mehr helfen. Mein Vater stürzte, fiel auf den Kopf, Schädelbasisbruch, Gehirnblutung, irreparable Schäden. Über Nacht war er ein schwerer Pflegefall geworden.

Die folgenden zwei Jahre bis zu seinem Tod sind wie ein Nebel, in dem ich bis heute hilflos nach Erinnerungen stochere. Ausfahrten mit dem Rollstuhl, der schwer zu lenken war, füttern, vorlesen, Hände halten, schweigen. Pflege bedeutet Abschied nehmen. Meine Mutter war ständig unterwegs. Den Mann betreuen, die Mutter, die Tante. Pflege bedeutet mehr als nur ein schöner Heimplatz. Pflege bedeutet Müdigkeit, Sorgen, das unentwegte Schuldgefühl, nicht genug zu tun, wenn man einmal früher geht oder einen Tag krank ist und gar nicht zu Besuch kommt. Pflege bedeutet, vieles selbst zu machen, weil das Heimpersonal knapp kalkuliert ist.

Aus Liebe

Auch wenn die Pflegekräfte sich verausgaben, muss man bei schweren Fällen selbst mittun. Nicht bloß aus Pflichtgefühl, sondern aus Liebe. Das weiß jeder, der pflegt. Das wissen Politiker scheinbar nicht. Pflege bedeutet allein zu sein und manchmal zu verzweifeln. Pflegende Angehörige haben keine Lobby, sie müssen selbst sehen, wo sie bleiben. Pflege bedeutet ständig die eigenen Grenzen zu überschreiten. Kurz nach dem Tod meines Vaters hatte meine Mutter einen Bandscheibenvorfall. Sie hat zu oft geholfen, mit angehoben, die Mutter, den Ehemann, da macht man keinen Unterschied. Sie kann bis heute nicht ohne Schmerzen gehen. Sie hatte keinen Urlaub seit jener Nacht, in der mein Vater fiel. Heute noch besucht sie täglich meine Großmutter im Heim. Sie lässt sie nicht allein. Sie hat es ihrem Vater kurz vor seinem Tod versprochen. Sie pflegt ihre Versprechen zu halten.

barbara.kaufmann@kurier.at

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