Schon lange vor Corona, als nur die Avantgarde joggingbehost im Homeoffice saß, wurde einem beim Blick aufs Schuhwerk x-beliebiger Passanten klar: Eleganz war gestern, die in Sneakers manifestierte Bequemlichkeit hat gesiegt. Das Begrüßenswerte daran: Etikette hat ausgedient, Kleider machen NICHT Leute (oder doch ein bisschen: Turnschuhe gibt’s ja auch von teuren Labels). Wir haben uns von Zwängen befreit, kein Mann muss mehr Krawatte, keine Frau mehr Stöckelschuhe tragen. Dennoch: Schlabberlook außerhalb der eigenen vier Wände kann auch mangelnde Wertschätzung für andere signalisieren und macht alles zum grauen Alltag – übrigens auch den Konzert- oder Theaterbesuch (wenn er endlich wieder möglich wird).
Dass sich Klassenunterschiede und regionale Zugehörigkeit nicht mehr in Bekleidung äußern, muss ja nicht automatisch lieblose Umgangsformen nach sich ziehen. Leider hat da aber eine mindestens so große Erosion eingesetzt, verstärkt durch die Pandemie. Weil man nicht mehr im Wirtshaus sitzen kann, ist schnelles Essen („to go“) mit den Fingern Standard geworden. Stammtischrunden wurden in den virtuellen Raum verlegt, wo man sich auf eine Art „auskotzt“, wie es im wirklichen Leben und mit echten Gesprächspartnern (hoffentlich) undenkbar wäre. Eine mehr als sonst gereizte Gesellschaft ist stets beschimpfungsbereit.
Selbst Sexismus ist plötzlich wieder salonfähig im Gewand schlechter Satire. Des Wutbürgers Lieblingsthema bleibt trotz der aktuellen politischen Verwerfungen Corona. Nichts ist geeigneter für Verschwörungstheorien und aggressive Besserwisserei: zu streng, zu locker, zu früh, zu spät … „Bolidiga“-Bashing ist sowieso österreichischer Volkssport, für die Politik gilt die Schuldvermutung. Das Recht auf Datenschutz (sonst geradezu hysterisch bewacht) gibt es hier nicht. Vergessen sind auch höfliche Anredeformen. Man reduziert Politiker sogar gerne auf ihre (verhunzten) Vornamen. Endlos-Lockdown, Virus-Mutationen, fehlender Impfstoff, Hausdurchsuchungen bei Ministern, Polit-Streit: Die Flut an schlechten Nachrichten hebt die Stimmung auch nicht gerade.
Ja, es läuft einiges unrund, aber nicht alles: Das Testmanagement zum Beispiel ist deutlich besser als in Deutschland und anderswo. Und der schleppende Impfbeginn liegt am Impfstoffmangel in der EU, der sich aber bald bessern sollte. Kritik ist legitim, aber sie sollte wenigstens Ansätze von konstruktiver Vernunft enthalten. Vergessen wir nicht, dass Andersdenkende keine Feinde sind und ein Rest an Umgangsformen das Leben erleichtert. Natürlich haben wir momentan andere Sorgen. Doch Covid geht vorbei, die geistige Verturnschuhung der Gesellschaft hingegen könnte bleiben.
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