Wir erleben gerade ein schmerzhaftes Erwachen. Ahmad Mansour, deutscher Islamismus-Experte und als Palästinenser in Israel geboren, wühlt in den Wunden europäischer Wohlstandsbürger. In einem Kommentar für das deutsche Magazin Focus beschrieb er den Realitätsverlust: „Wir haben uns einer Utopie hingegeben […]. Wir waren davon überzeugt, die Welt würde uns schon folgen. Pazifismus, Feindseligkeit gegen Sicherheitsorgane […], gepaart mit einem Absolutheitsanspruch auf Moral“, schreibt er. Der Westen habe sich mit einem „woken Diskurs“ selbst in Ketten gelegt. Fazit: „Die Demokratie wird nicht mit dem Anstrahlen des Brandenburger Tors in den Farben der ukrainischen Flagge gerettet.“
Jetzt ist noch ein weiterer Realitätsverlust dazugekommen: die Vorstellung, Russland für immer von Europa abkoppeln zu können. Natürlich war es richtig, mit dem Riesenland wirtschaftlich zu kooperieren. Hugo Portisch wünschte sich 2020 im KURIER-Interview eine Freihandelszone mit Russland, bezeichnete es als europäisches Land, das allerdings nicht europäischen Standards entspreche. Und ihm schwebte die alte Gorbatschow-Idee eines Sicherheitssystems vor, in das Russland und die USA eingebunden wären. Das wäre notwendiger denn je, wenn auch völlig unrealistisch mit Putin.
Klar ist: Ohne Stopp des Angriffskriegs kann nicht zur Tagesordnung übergegangen werden, Sanktionen sind richtig. Aber langfristig ist die EU nur stark, wenn es mit Russland einen wirtschaftlichen, wissenschaftlichen, kulturellen Austausch pflegen kann (jedoch ohne – wie Österreich im Falle von russischem Gas – so stark von nur einem einzigen Geschäftspartner abhängig zu sein). Die gekappten Beziehungen zu Russland verbessern die Welt nicht, sondern spielen nur anderen autoritär regierten Staaten, etwa China, in die Hände. Österreich klopft gerade bei arabischen Scheichs an, die USA könnten das Öl-Embargo gegenüber Venezuela aufheben.
Die Ukraine braucht eine völkerrechtlich abgesicherte Neutralität. Weil das Land zumindest die Propagandaschlacht gewonnen hat, ist vergessen, dass es für einen EU-Beitritt noch nicht reif genug wäre. Wir beten für ein rasches Ende der blutigen Gewalt – und helfen. Putin hat seine Kriegsfratze gezeigt und jedenfalls verloren. Europa sollte Lehren daraus ziehen, aber die Tür zu Russland nicht ganz schließen.
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