Nicht gerade jetzt die Neutralität opfern

Nicht gerade jetzt die Neutralität opfern
Als Vermittler wäre der neutrale Status Österreichs derzeit perfekt. Leider haben wir diese Rolle verloren – nicht aber unsere Lebenslügen
Martina Salomon

Martina Salomon

Vor 22 Jahren sagte der damalige Kanzler Wolfgang Schüssel Unerhörtes: Österreich solle auch die Option eines NATO-Beitritts nicht ausschließen. Davor schon hatte er Wirbel erzeugt, indem er die Neutralität mit Mozartkugeln und Lipizzanern verglich. Also quasi folkloristisch relevant, sonst aber nicht mehr. Natürlich hatte er recht.

Mit dem EU-Beitritt ist Österreich europäische Beistandsverpflichtungen eingegangen, und schon seit Jahrzehnten sind wir Teil des „Partnership for peace“-Programms der NATO. Nun gibt es wieder Krieg in Europa. Tatsächlich ist die Republik nur noch im militärischen Sinne neutral. Schon beim Ungarn-Aufstand 1956 hat Österreich klar Position bezogen, wie auch 1968 bei der Invasion der CSSR durch die Sowjetunion. Jetzt sind wir bei den Sanktionen gegen Russland und bei der Ukraine-Hilfe dabei.

Finnland und Schweden fühlen sich mittlerweile in der NATO sicherer. Und Österreich? Redet sich wieder einmal die Neutralität schön, diesmal auch von ÖVP-Seite. Es war interessant zu beobachten, wie ein ORF-Moderator vergangene Woche minutenlang versuchte, die Europaministerin auf eine Kritik an der Neutralität festzunageln. Hätte Karoline Edtstadler aber dasselbe gesagt wie die Neos-Chefin am Freitag im Parlament, wäre sie wohl heftig gescholten worden: Neutralität allein helfe nicht, man müsse eine neue Sicherheitsstrategie erarbeiten, sagte Beate Meinl-Reisinger. Stimmt. Eine klare Mehrheit der Österreicher ist jedoch nicht bereit, bequeme Lebenslügen aufzugeben. Seit Langem sind wir dank unserer Neutralität Nutznießer des europäischen Sicherheitssystems, haben die Friedensdividende kassiert, ohne in Sicherheit zu investieren. Erst jetzt wurde das Heeresbudget aufgestockt.

Längst vergessen ist, dass Österreich die „immerwährende“ Neutralität als Preis für die Zustimmung der Sowjetunion zahlte. Sie war 1955 nicht Teil, aber Voraussetzung des Staatsvertrags. So nebenbei lässt sich das nicht ändern. Dem Neutralitätsgesetz nicht zugestimmt hat damals übrigens nur die Vorläuferpartei der FPÖ. Heute geriert sie sich als aggressive Hüterin der Neutralität.

In Wahrheit wissen alle: Gerade jetzt wäre kein guter Zeitpunkt dafür, die ohnehin auf den Kern reduzierte Neutralität aufzugeben, weil es zum ersten Mal seit Langem bedeuten könnte, dass Österreich im schlimmsten Falle an einem Krieg beteiligt wäre. Leider hat sich unsere einstige – überschätzte – Rolle als Vermittler zwischen Ost und West abgenutzt, auch wenn einige internationale Organisationen ihren Sitz in Wien haben. Die Mediatoren-Funktion wurde autoritären Staaten wie Türkei oder China überlassen.

Kanzler Karl Nehammer sprach am Freitag von einer Rolle Österreichs als „Brückenbauer“. Das ist mehr Hoffnung als Realität. Auch wenn uns die Neutralität dabei helfen würde. Zumindest theoretisch.

Martina Salomon

KURIER-Herausgeberin Martina Salomon

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