Moria und die (Doppel-)Moral

Moria und die (Doppel-)Moral
Wiens Wahlkämpfer lassen die Flüchtlingsdebatte aufleben. Das Kalkül: Was 2015 funktioniert hat, kann auch 2020 nicht so falsch sein.
Christoph Schwarz

Christoph Schwarz

Zur Stimmabgabe geht es bei der Wien-Wahl diesmal nur mit Maske, die Identifikation erfolgt zuvor hinter einem Paravent – und sogar den Kugelschreiber muss man sich selbst mitbringen. Was auf die Wiener da am 11. Oktober zukommt, befeuert nicht eben die Lust an der gelebten Demokratie.

Vor allem der SPÖ, die mit trügerisch großem Sicherheitsabstand voranliegt, bereitet die verschärfte Corona-Lage Kopfzerbrechen. Weil viele Ältere, eine traditionell SPÖ-affine Wählergruppe, aus Angst vor Ansteckung kurzfristig der Wahl fernbleiben könnten.

Aber auch, weil Michael Ludwig gerade einen Teil seines Amtsinhaber-Bonus verspielt. Bisher beschränkte er seinen Wahlkampf – treffender: Nicht-Wahlkampf – darauf, die Stadt mit betont ruhiger Hand zu lenken. Angesichts immer neuer Corona-Hiobsbotschaften leidet er aber in seiner Glaubwürdigkeit als Krisenmanager.

Und so passiert gerade das, was kaum noch jemand für möglich hielt. Der Wahlkampf wurde um ein zweites Thema angereichert. Die Stadt befindet sich mitten in einer Flüchtlingsdebatte. Wieder einmal. Die Parallelen sind unverkennbar: Was bei der Wahl 2015 allen Seiten trefflich bei der Mobilisierung half, das kann 2020 nicht falsch sein. Das Match lautet (wie schon bei Corona) SPÖ gegen ÖVP – und der bisherige Verlauf ist rasch erzählt: Der rote Bürgermeister verkündete, 100 Flüchtlingskinder aus dem abgebrannten Elendslager im griechischen Moria aufnehmen zu wollen. Der türkise Innenminister lehnte ab und antwortete mit dem zynischen Angebot, Wien könne ersatzweise Flüchtlinge vom Bund aus Traiskirchen übernehmen.

Das Buhlen um die Wähler

Experten sind sich einig, dass das Thema dazu taugt, im Wahlergebnis noch für Veränderungen zu sorgen: Die SPÖ kann mit moralischer Überlegenheit punkten und bringt zugleich die Grünen in Bedrängnis, denen im Bund Mut und Mittel ausgegangen sind, sich gegen die ÖVP zu behaupten. Die ÖVP will mit einer harten Linie heimatlose FPÖ-Wähler abholen. Jene paar christlich-sozialen Wähler, die vom türkisen Kurs enttäuscht sind, könnten bei den Neos unterkommen. Einen Vorwurf müssen sich am Ende alle gefallen lassen: Sie nutzen eine Tragödie, um politisches Kleingeld zu wechseln. Der Vorschlag der SPÖ ist bestenfalls Symbolpolitik, eher sogar Populismus. Dass es einer mit humanem Antlitz ist, wirkt sympathischer als der Versuch der ÖVP, am rechten Rand zu fischen – Populismus bleibt es dennoch.

So ein bisserl Doppelmoral wohnt freilich nicht nur der Politik inne, sondern auch den Wienern selbst: Die Frage, ob sie dafür wären, 100 Flüchtlingskinder aufzunehmen, beantworteten sie in einer OGM-Umfrage für den KURIER mehrheitlich mit Ja. Und die Eltern der Kinder? Für sie ist laut derselben Umfrage in Wien kein Platz. Am Ende bekommt doch jeder die Politik, die er verdient.

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