Manchester liegt nicht am Meer

Barbara Kaufmann

Barbara Kaufmann

Vielleicht müssen wir ans Meer fahren. Vielleicht weint es sich dort leichter.

von Barbara Kaufmann

über Manchester

Manchester ist die Stadt des Lieblingsfußballclubs meines Mannes. Wenn ich an Manchester denke, denk ich an Abende mit Freunden, an Jubel und Enttäuschung, an das Siegesbier, das Verliererbier, an eine Sporthose, die schon ganz zerschlissen ist, die man aber nicht weggibt, weil auf ihr Manchester steht. Ich war noch nie in Manchester. Ich bin kein Fußballfan. Manchester liegt nicht am Meer.

„Am Meer weint es sich leichter“, hat mein Vater einmal zu mir gesagt. Es war im Frühling 1989 und es war kalt. Trotzdem saßen wir am Strand von Grado, blickten aufs Wasser und ich wartete. Darauf, endlich weinen zu können. Im Februar war meine Urgroßmutter gestorben, zu Ostern mein Taufpate, dann mein Großonkel. „Es sind immer drei hintereinander“, hatte eine Cousine bei seinem Begräbnis gemurmelt und meine Mutter war laut geworden. Sie ist Naturwissenschaftlerin. Sie hat es nicht so mit Aberglauben. Noch weniger hat sie es mit Menschen, die ihren Kindern Angst machen.

Kurz nach dem Begräbnis blätterte ich im neuen Bravoheft und stockte. Da war ein Bericht über ein schreckliches Unglück in einem Fußballstadion in Sheffield. Der Andrang der Fans war zu groß gewesen, vielleicht hatte man auch zu viele Tickets verkauft. In einem Tunnel, der zu den Tribünen führte, war eine Massenpanik entstanden. Menschen wurden niedergetrampelt, an die Wand gedrückt, eingekeilt zwischen andere. Auch an den Eisengittern, die als Absperrung vor den Tribünen angebracht waren, wurde der Druck der Menge zu groß. Viele starben hilflos. Die Zeitschrift zeigte Bilder von weinenden Eltern und von toten Teenagern, die in meinem Alter waren.

Bis dahin war der Tod für mich etwas gewesen, das nur alte Menschen in meiner Familie treffen konnte. Das am Ende eines langen Lebens kam, am Ende einer langen Krankheit und alles verschluckte. Plötzlich war der Tod ganz nah. Ich ging selbst oft zu Eishockeyspielen, stand am Stehplatz, war mitten im Fan-Gedränge. Ich hatte Angst. Ich konnte nicht mehr schlafen. Ich wollte nicht verschluckt werden. Da packte mich mein Vater ins Auto und fuhr mit mir nach Grado. „Das in Sheffield war ein schreckliches Unglück“, sagte er. „Aber es geht nicht weg, wenn wir dauernd daran denken. Und die Chance, dass wir mehr Glück im Leben haben als so ein Unglück, ist viel viel höher.“

Das hat mich damals beruhigt und danach hab ich endlich geweint. Ich frage mich wie Eltern das heute ihren Kindern erklären. Die Anschläge, die Opfer in ihrem Alter, die Täter in ihrem Alter. „Nicht anders als dein Vater damals“, sagt meine Freundin. Sie hat zwei Töchter. „Mit Vernunft. In den Arm nehmen, trösten und sich selbst ein bisschen mittrösten. Erklären, dass es Menschen gibt, die uns töten wollen. Dass wir keine Angst haben dürfen, weil die Chance dass es uns erwischt viel viel kleiner ist als die Chance weiterzuleben.“ Es ist der Tag nach Manchester. Die Zeitungen zeigen Bilder der Opfer. Junge fröhlichen Menschen, die noch ihr ganzes Leben vor sich hatten. Die jüngste ist acht Jahre alt. „Vielleicht“, sagt meine Freundin, „hatte dein Vater recht. Vielleicht müssen wir ans Meer fahren. Vielleicht weint es sich dort leichter.“

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