Gift für die Gesellschaft: Soziale Medien simulieren Meinungsfreiheit nur

Gift für die Gesellschaft: Soziale Medien simulieren Meinungsfreiheit nur
Es ist Zeit für eine schonungslose Kosten-Nutzen-Rechnung darüber, was soziale Medien für die Demokratie bedeuten.
Georg Leyrer

Georg Leyrer

Meinungsfreiheit ist eines der höchsten Güter, die sich der demokratische Westen erkämpft hat. Sie ist immer gefährdet. Und genau deshalb muss man tunlichst und kompromisslos aufpassen, dass man sie nicht dadurch entwertet, dass man sie mit dem Absondern von Meinungen auf den großen Technologieplattformen gleichsetzt.

Leider passiert genau das – nun auch wieder nach der Festnahme des inzwischen gegen Kaution wieder freigelassenen Telegram-Chefs. Dass auf der Plattform (Telegram ist viel mehr soziales Medium als Messenger) allerlei Widerliches und Illegales passiert – egal. Der Gedanke allein, dass für diese illegalen Inhalte jemand zur Verantwortung gezogen werden könnte, wird automatisch zur Attacke auf die Meinungsfreiheit hochargumentiert.

Denn schließlich seien auf Telegram auch jene aller Couleurs unterwegs, die selber denken, sowie Dissidenten in Russland oder anderen totalitären Systemen. Denen könne man das doch nicht wegnehmen: Hier passiere oder entstehe Demokratie, und diese Plattformen seien ein Ort der Meinungsfreiheit.

Das ist eine brandgefährliche Fehlsicht, und die Folgen dieses Irrglaubens spüren wir jeden Tag. Man sitzt hier auf erstaunliche Weise dem Marketing der großen Plattformen auf – und manche sind auch noch stolz darauf, sich von diesen instrumentalisieren zu lassen. Diese Plattformen sind aber, das beweist Twitter, sorry: X, jeden Tag, keine taugliche Infrastruktur für die Verhandlungen des Demokratischen. Allein wegen der privaten und nicht einsehbaren technologischen Bedingungen: Welche Ansichten der Algorithmus promotet oder runterrechnet, ist von außen nicht zu überprüfen. Auf derartiger Milliardärswillkür darf doch ein demokratisches Gefüge nicht fußen.

Aber darüber hinaus ist eine schonungslose Kosten-Nutzen-Rechnung über die demokratischen Auswirkungen der sozialen Medien längst überfällig. Der Aufschwung islamistischer Radikalisierung findet ebenso über diese statt wie die Aufgerautheit der westlichen Gesellschaft insgesamt: Mit Schrecken schaut man der öffentlichen Verbiesterung eigentlich sehr lieber Menschen zu, die dort streiten. Der endlose Abtausch von onlinetauglichen Klein-Sticheleien entzweit so längst auch die Mitte – und hat die politische Auseinandersetzung vergiftet. Streit ist die Ursuppe der Populisten, aus der sie bestärkt entsteigen.

Das Argument, dass die Plattformen nichts für die Inhalte können, ist unerhört – wenn Islamismus und anderes Gesellschaftsgift dort nicht kontrolliert werden können, dann darf man sie in dieser Form schlicht nicht betreiben. Wir sind längst an einem Punkt, an dem diese Plattformen die Meinungsfreiheit mehr gefährden als propagieren. Und dementsprechend muss man sich ihnen gegenüber aufstellen.

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