Ein schmerzhafter "Braindrain" bei der ÖVP

Es dauert nicht mehr lange, dann sind ÖVP und Grüne voneinander erlöst. Zu den wenigen Dingen, die sie vor der Nationalratswahl am 29. September noch gemeinsam umsetzen mussten, zählte die Nominierung eines neuen EU-Kommissars. Die zog sich über Monate. Die Grünen kündigten eine alte Sideletter-Vereinbarung auf und konnten sich die Provokation nicht verkneifen, ÖVP-EU-Veteran Othmar Karas als Kompromiss-Kandidat vorzuschlagen. Dieser gilt im Kanzleramt spätestens seit seiner Abrechnung mit der Volkspartei vergangenen Herbst als Persona non grata.
Eventuell hätte sich die Koalition das Drama sparen können. Am Mittwoch haben die Grünen nämlich doch dem Wunsch von Bundeskanzler Karl Nehammer entsprochen – und der Nominierung von Finanzminister Magnus Brunner zugestimmt. Der soll vom Tauziehen bereits veritabel genervt gewesen sein, wie man hört. Die Qualifikation des 52-Jährigen stand ja nie zur Debatte. Neben seinem Fachwissen in den Bereichen Finanzen und Energie spricht der Absolvent des Londoner King’s College wohl mit das EU-tauglichste Englisch aller Regierungsmitglieder. Kurzum: Es ist ihm zuzutrauen, das fordernde Hearing für den Topjob zu überstehen.
Überraschend beliebt und Nehammers Konkurrent
Zuletzt ging es prioritär darum, was die Grünen im Abtausch bekommen. Offensichtlich keine Posten. Dem Vernehmen nach hat die ÖVP ihnen Zugeständnisse im Energiebereich in Aussicht gestellt – etwa beim Ausstieg aus russischem Gas, dem Biogasgesetz oder dem Energie- und Klimaplan. Ein guter Deal für die Grünen? Sollte es so kommen: definitiv. Diese Gesetze wären mehrere späte Prestigeerfolge für Energieministerin Leonore Gewessler, und zwar direkt vor der Wahl.
Aus ÖVP-Sicht hat Brunners Abgang durchaus Schattenseiten. Mit ihm sowie Wirtschafts- und Arbeitsminister Martin Kocher, der sich in die Nationalbank verabschiedet, verliert das türkise Regierungsteam seine beliebtesten Mitglieder – zumindest laut APA-OGM-Vertrauensranking. Brunners positive Werte kann man eigentlich nur als generelle Sympathiebekundung der Wähler deuten. Denn seine Budgetbilanz bewegt sich fernab schwarzer Zahlen. Ausbaden muss das der Nachfolger. Fehlendes Tempo bei Sparmaßnahmen kompensierte er im Straßenverkehr – und verlor für vier Wochen seinen Führerschein.
Unterstellt man Nehammer machtpolitisches Kalkül, ist er wohl seinen größten internen Konkurrenten neben Karoline Edtstadler los. Übermäßige Lust auf die Parteispitze wurde Brunner aber ohnehin nie nachgesagt, auf ein Weiterwerken als Finanz- oder Energieminister sehr wohl. Langfristig könnte sich sein Brüssel-Abenteuer als schmerzhafter „Braindrain“ für die ÖVP erweisen.
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