Kraftanstrengung statt Kraftmeierei

Coronavirus - Impfzentrum
Politik am Pranger: Kein Wunder, dass die Stimmung gereizt ist. Das hilft in der größten Krise der Zweiten Republik aber nicht weiter
Martina Salomon

Martina Salomon

Stellen wir uns doch langsam die Frage der Verhältnismäßigkeit – nein, nicht der Corona-Maßnahmen, sondern des Ibiza-Untersuchungsausschusses: In der größten Krise der Zweiten Republik verhören Oppositionspolitiker reihum Spitzenpolitiker, Sektionschefs, Oberstaatsanwälte, Generaldirektoren, PR-Berater/innen als „Auskunftspersonen“ und halten Tribunale ab. Man will allen Ernstes die Sozialversicherungsdaten von Tausenden Novomatic-Mitarbeitern, um mögliche Spenden herauszufinden (wobei die Neos schon zögern). Natürlich ist der U-Ausschuss nicht sinnlos, weil er Bewusstsein schafft, dass manche jahrzehntelang geübte Praxis zu hinterfragen ist.

Aber dass die Politik mit Unternehmen Kontakt hält oder bei der Besetzung der Aufsichtsbehörde für Staatsbeteiligungen mitspricht, ist noch kein Skandal. Das ist in den Bundesländern, wo meist eine Partei ewig dominiert, nicht anders. Nur hat sich dort längst ein fein gesponnenes Netz an „befreundeten“ Firmen gebildet, wo jeder weiß, was zu tun ist, ohne je ein SMS schreiben zu müssen.

Wird sich darum auch jemand kümmern – etwa um die Grundstücksumwidmungskorruption und wie man damit Millionen machen kann (worauf es Hinweise im Ibiza-Video gibt)? Muss jeder Politiker fürchten, dass jedes Schriftstück skandalisiert werden und zu einem jahrelangen Beschuldigten-Status führen kann? Und wie viel Courage braucht es eigentlich, wenn Künstler(innen) 30.000 Euro sammeln, damit man den Kanzler überlebensgroß mit türkisem Herz (quasi herzlos), dafür riesigen Ohren an einer Wiener Hauswand affichiert? (Eine Art Pranger – ein Wunder, dass man nicht aufgefordert wird, darauf zu spucken.)

Dieser #Kurzmussweg-Hass hilft niemandem. Demnächst müssen eine Pleitewelle verhindert und fast eine Million Menschen wieder in Arbeit gebracht werden. Ja, es gab in diesem Jahr viel zu kritisieren: Derzeit sorgt das Impf-Durcheinander mit merkwürdigen Priorisierungen für Ärger und des Kanzlers EU-Kritik für Kopfschütteln. Die heimischen Gesundheitsbeamten waren schließlich Teil des offensichtlichen EU-Versagens. Selbst wenn endlich mehr Impfstoff da ist, könnte es holprig weitergehen, u. a. weil sich unser System in der digitalen Steinzeit befindet. Nach einem Jahr Pandemie ist auch klar, dass das Gesundheits- und Sozialressort zu groß und der Minister überfordert ist. Das Koalitionsklima ist belastet, der Kanzler nervös.

In nächster Zeit werden wir weniger Kraftmeierei und mehr Kraftanstrengung brauchen. Immerhin kostet uns das Virus schon unvorstellbare 100 Milliarden Euro. Zumindest vorübergehend sollten alle, auch die Opposition, an einem Strang ziehen. (Teile der SPÖ um Bürgermeister Ludwig und die Parteichefin haben das erkannt.) Angesichts der gereizten Stimmung dürfte der Wunsch jedoch ein frommer bleiben.

Martina Salomon

KURIER-Herausgeberin Martina Salomon

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