Wer kein Bauchgefühl hat, muss Experten vertrauen

Wir sind satt und haben eine so hohe Lebenserwartung wie nie. Warum kreisen dann so viele Sorgen um das Essen?
Martina Salomon

Martina Salomon

Essenspanik ist eine weit verbreitete Krankheit.

von Dr. Martina Salomon

über Lebensmittelskandale

Die Wurst hat zwei Zipfel, und manchmal zipfeln auch Experten zurück: Die Weltgesundheitsorganisation meinte am Freitag beschwichtigend, dass völliger Verzicht auf Wurst nicht nötig sei. Am Montag hatte sie nach Auswertung zahlreicher Studien erklärt, dass verarbeitetes Fleisch das Krebsrisiko erhöhe.

Die Debatte erinnert frappant an andere Aufregungen. Es ist noch gar nicht so lange her, da standen Eier und Butter auf der Liste gefährlicher Lebensmittel ganz oben. Weil sie angeblich den Cholesterinpegel und das Schlaganfallrisiko erhöhen. Doch Eier und Butter sind längst rehabilitiert. Dafür musste das Image von Margarine abschlanken.

Dann kamen Weizen- und Milchprodukte (zu Unrecht) in Verruf. Inzwischen warnen Wissenschaftler vor Fructose. Wahrscheinlich sogar zu Recht: Über Softdrinks nehmen vor allem Jugendliche zu viel Fruchtzucker auf. Das macht fett.

Gesundheitsgott anbeten

Ein paar philosophische Fragen seien aber gestattet: Ist es eigentlich oberste Bürgerpflicht, mindestens 100 Jahre alt zu werden? Müssen wir täglich den Gesundheits- und Fitnessgott anbeten? Ist, wer sich nicht kasteien will, ein schlechter Mensch? Wird unsere ach so liberale, säkulare Gesellschaft damit wieder vom Katholizismus mit seinen (theoretisch strengen) Fastenritualen eingeholt? Und darf man Lokale in Wien-Neubau auch ohne Nahrungsmittel- Intoleranz betreten?Der Konsument sitzt gerne Marketing-Schmähs auf: So wies Star-Köchin Sarah Wiener gerade darauf hin, dass der einst verteufelte "Analogkäse" unter dem Label "vegan" zurückgekehrt ist und nun doppelt so viel kostet wie Bio-Käse. Absurd!

Essenspanik ist in der satten Gesellschaft eine weit verbreitete Krankheit, obwohl wir doppelt so alt werden wie noch vor 150 Jahren und auch Gott sei Dank nicht mehr massenhaft an Keimen und Schimmelpilz sterben. Niemand sollte sich eine Rückkehr in die Steinzeit wünschen, auch wenn die Paleo-Diät gerade boomt. Dank "technisierter" Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie ist auch der Hunger in der Welt deutlich zurückgegangen.

Nicht das Essen an sich macht krank, sondern zu viel von allem: Fett, Zucker, Salz, dazu noch Nikotin und Alkohol, gepaart mit mangelnder Bewegung. Wer Wurst gefährlich findet, müsste auch Wein, Zigaretten, Autofahren verbieten – außerdem das Kaminfeuer (potenziell krebserregender Rauch!). Wollen wir das?

Man ist, was man isst?

Ja, natürlich essen die Österreicher zu viel Fleisch. Der heimische Handel setzt ausgerechnet bei diesem wertvollen Produkt auf Kampfpreise, und der auf Schnäppchenjagd getrimmte Kunde greift freudig zu. Das ist schlecht für Tier und Umwelt, aber nicht unbedingt für das Individuum. Denn der Mensch ist Allesfresser, und zwar ein erstaunlich anpassungsfähiger. Sonst hätte er als Spezies nicht überlebt. Je nach Region isst er vorzugsweise Getreide, Fisch oder eben Fleisch. Lässt man Suchtmittelmissbrauch und extremes Übergewicht mal beiseite, entscheidet weniger das Essen als die genetische Ausstattung (plus Glück und Schicksal) über die Lebenserwartung.

Lassen Sie sich also die Wurst nicht vom Brot stehlen und vertrauen Sie lieber Ihrem "Bauchgefühl". Es ist leider irgendwo zwischen saisonalen Modediäten und Expertenratschlägen verloren gegangen.

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