Der Ärzte-Protest offenbart den Sündenbock Standesvertretung

Martina Salomon

Martina Salomon

Noch mehr unten durch dürfte momentan nur die Lehrergewerkschaft sein.

von Dr. Martina Salomon

über den Ärzte-Protest

Wenn Sie die Ärztekammer in eine Kostenlenkung im Gesundheitswesen einbinden wollen, dann ist es so, als ob Sie die Gans fragen, ob es zu Weihnachten Gans oder Karpfen geben soll“: Diese launigen Worte schrieb ein Leser angesichts des Ärzte-Protestes an den KURIER. Noch mehr unten durch dürfte momentan nur die Lehrergewerkschaft sein.

Mittlerweile herrscht ja parteiübergreifender Konsens darüber, dass sie die Hauptschuldige am schlechten Zustand des Bildungswesens ist. Wie herrlich für die Verantwortlichen im Gesundheits- und im Bildungsbereich! Solch ein Sündenbock entbindet die Politik jeglicher Verantwortung für massive Versäumnisse der Vergangenheit. Vordergründig klingt es völlig schlüssig, die Ärztekammer aus der Gesundheitsplanung und die Lehrergewerkschaft aus der Schulpolitik auszuschließen: Sie sind konservativ-beharrende und effiziente Lobbyisten. Aber ist die Schwäche ihrer Verhandlungspartner ein Argument für die Abschaffung der gewählten Interessenvertretungen?

Überholt

Dieser Gedanke lässt sich ganz schön demokratiefeindlich weiterspinnen. So gesehen sind alle Standesvertretungen überholt, die Sozialpartnerschaft Müll. Klar: Unternehmensvertreter und Gewerkschaft sorgen in verlässlicher Weise dafür, dass sich weder an den Ladenschlusszeiten noch am Pensionsantrittsalter Wesentliches ändert. Aber liegt das nicht in größerem Maße an der Schwäche der Regierenden? Noch eine Kurve weitergedacht sind natürlich auch Volksbefragungen Unsinn und sogar allgemeine Wahlen ein Übel. Schließlich bestimmen die Nettoempfänger im Sozialwesen über die Leistungsträger, und die Pensionisten über den Rest der Bevölkerung. Einfach weil sie über die Wählermehrheit verfügen. Das ist übrigens kein spezielles Politikproblem des 21. Jahrhunderts. Man erinnere sich nur an den Pensionistenbrief Franz Vranitzkys.

Würde die Politik befreit von Standesvertretungen mutiger agieren? Ziemlich unwahrscheinlich. Denn nicht einmal dort, wo sie sich unbeeinflusst selbst erneuern könnte, schafft sie einen Fortschritt. Wer hindert sie z. B. daran, den sinnlosen Bundesrat abzuschaffen? Warum wagt sie nicht in einer – genau deshalb verlängerten – Legislaturperiode, unpopulistische Reformen anzugehen?

Aber seien wir ehrlich: So wie es billig ist zu behaupten, die Politik bringe gar nichts zustande, ist es lächerlich zu glauben, Standesvertreter seien die Hauptschuldigen am Reform-Stillstand. In einer entwickelten Demokratie schafft es die Politik, die Lobbys beizuziehen, ihr praktisches Wissen zu nutzen, ohne sich von ihnen dominieren zu lassen. Und die Bürger können abschätzen, dass „Freibier für alle“ ein leeres Wahlversprechen ist. Oder sind wir am Ende doch keine entwickelte Demokratie?

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