Die Meinungssau rauslassen
Aber das wussten die Twitterer/Facebooker zum Zeitpunkt ihres apodiktischen Urteils natürlich noch nicht.
Die deutsche Grüne Renate Künast hat nur Minuten nach dem schrecklichen Axt-Attentat in einem Zug bei Würzburg per Twitter gefragt, warum der 17-jährige Attentäter nicht angriffsunfähig geschossen statt erschossen wurde. Und der Journalist Jakob Augstein notierte auf Facebook in Anspielung auf die Gewaltwelle in den USA, "eine brutalisierte Polizei kann für jeden einzelnen Bürger zur Gefahr werden".
Seither rudern beide im Shitstorm, der sich über sie ergießt, ein wenig zurück – der Attentäter, der fünf Personen teils lebensgefährlich verletzt hatte, ging immerhin mit seinen blutigen Waffen auf Polizisten los. Aber das wussten die Twitterer/Facebooker zum Zeitpunkt ihres apodiktischen Urteils natürlich noch nicht.
Zu welcher Gefahr sie, ob Politiker oder selbst ernannte Netz-Kommentatoren inklusive Shitstormern, für jeden einzelnen Bürger werden, welche Emotionen sie auslösen und verstärken, darüber wird in den sozialen Medien geschwiegen. Kein Wunder: Die Welt, die sie sich dort schaffen, ist sakrosankt.
"Zwischen einem Unglück und den ersten Meinungsbeiträgen im Netz verstreichen gefühlt nicht mehr als drei Millisekunden – frei von jeder Sachkenntnis", schreibt die Süddeutsche Zeitung dazu. Treffender lässt es sich kaum auf den Punkt bringen.
Das Netz ist nicht nur Tummelplatz für pathologische Poster, die ihrem kleingeistigen Hass auf was auch immer freien Lauf lassen, sondern auch Schauplatz für eine Aufgeregtheit in allen Belangen, die vorgibt, die Wahrheit zu vertreten, ohne auch nur einen Funken von ihr zu kennen. Check, Recheck, Double Check, diese journalistische Tugend aus prähistorischen Medienzeiten, ist systemwidrig: Raus mit der Meinungssau, raus mit der Nachricht, raus mit dem Brutal-Video, das im Sinne der Nichtweiterverbreitung von Angst besser keiner sähe – Hauptsache im Netz, dann ist es wahr. Manche Medien spielen da – notgedrungen? – auch gerne mit.
Früher mehr Terroropfer
Leben wir in einer schlechteren, in einer gefährlicheren Zeit als früher? Das wird dieser Tage vor allem angesichts des islamistisch motivierten Terrors, der jederzeit an jedem Ort stattfinden kann, gerne bejahend gefragt. Wahr ist: Mord, Putsch, Terror, Grausamkeit, Katastrophen hat es immer gegeben. In den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts übrigens mit mehr Terroropfern als heute (siehe Grafik hier). Über die unterschiedliche Qualität und Bedrohungslage lässt sich disputieren.
Was sich jedenfalls verändert hat, ist die mediale Verfügbarkeit: Rund um die Uhr, jede Sekunde und in Echtzeit wird transportiert, was irgendwo passiert und früher vielleicht eine Fußnote war. Und jede Sekunde wird es eingeordnet, von Einordnern, die vorgeben zu wissen, wo es hingehört. Die eine atemlose Welt erschaffen, die nicht mehr Luft holen kann. Und die vorgeben, besser zu wissen, wie die Welt eigentlich sein sollte. Bloß: Besserwissen ist oft das Gegenteil von Wissen.
andreas.schwarz@kurier.at
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