Verspätung

wunder WELT: Kreislauf
wunder WELT: Joachim Lottmann über Freundschaften.
Joachim Lottmann

Joachim Lottmann

Die allererste Freundin, die ich je hatte, lebt noch immer bei den Eltern im achten Bezirk. Ich hoffe, das hat nichts mit mir zu tun. Wir waren auch nur kameradschaftlich verbunden, denn siewar erst 13, ich 16. Ich hatte Fan-Postkarten von mir in ihrer Schule verteilt, mit meiner Telefonnummer und einem Aufdruck in Schönschrift "Du hast einen Freund" darauf. Eine tolle Aktion, fand ich, es meldete sich aber nur sie. Immerhin. Ich wurde ihrem Vater vorgestellt, einem erratischen, starren, unheimlichen Typen, schon damals gefühlte 80 Jahre alt, ein Maler. Der Mund schief und zusammengepresst, die Augen schwammen zusammenhanglos hinter dicken Brillengläsern. Er hatte eine Kriegsverletzung am Bein. Oft stand er hochaufgerichtet auf den Stock gestützt und schwieg gnadenlos. Trotz seiner Bewegungslosigkeit verprügelte er meine Freundin regelmäßig. Er malte nur ein Motiv, einen plumpen rotbraunen Kopf. Einmal gab er mir eine Führung durch sein Werk: ungefähr 575 rotbraune Köpfe. Einen nach dem anderen hängte er mir vor die Nase. Ich fiel irgendwann in Ohnmacht. Dieser Maler hatte viele Sammler, doch war er zu stolz, um auszustellen. Seine kleine Frau, Bibliothekarin, musste mit ihrer Halbtagsstelle die Familie durchbringen. Die Leute waren bettelarm. Meine Freundin hatte in ihrem langen Leben nur einen Mann, schweigsam auch er. Ein Lyriker, der nie veröffentlichte. Als sie sich trennten, zog sie zurück zu ihren Eltern in den Dachboden am Bennoplatz. Nun ist der unheimliche Vater gestorben, und ich habe sie wieder besucht. Sie ist wie vor 30 Jahren, mädchenhaft, nägelkauend, kettenrauchend, unsicher. Gemalt hat sie nie, obwohl sie das weiß Gott besser kann als ihr Vater. Es gibt aus Versehen hingeworfene Skizzen, Porträts, die das beweisen. Wird sie jetzt anfangen? Wird ihr Leben jetzt beginnen, mit fast einem halben Jahrhundert Verspätung? Natürlich nicht.

joachim.lottmann(at)kurier.at

Kommentare