über LEBEN: Klassentreffen
Der Mann von der Autowerkstatt ist geduldig, aber man kann hören, dass er mich für einen Trottel hält. "Welche Marke Winterreifen wollen Sie?" Keine Ahnung, Reifen halt. Da gibt's Marken? "Und welche Dimension?" Dimension? Was ist das jetzt wieder? "Haben Sie Alu- oder Stahlfelgen?" Das weiß ich nicht. Ich verstehe nichts von Technik, ich weiß beim Auto nur, wo das Lenkrad ist. Trotz meiner offensichtlichen Idiotie verspricht er sehr freundlich, dass die Winterreifen in kürzester Zeit drauf sein werden. Und ich bin gar nicht froh darüber. Weil: Ich habe überhaupt nur in der Werkstatt angerufen, um eine Ausrede für das Klassentreffen zu haben. Ja, ich wäre eh gerne gekommen, aber das Auto steht in der Werkstatt. Neue Winterreifen, ihr versteht, das Klassentreffen ist ja am Gießhübl, also nahezu hochalpin, da bleibt im Oktober oft der Schnee liegen ... Und jetzt hab ich neue Reifen und muss rauf. Falls es nicht außergewöhnlich stark schneit und am Gießhübl Schneekettenpflicht herrscht. Ich habe Angst vor dem Klassentreffen. Ich möchte mich nicht an die Schule erinnern. Ich halte Schule für eine grausliche Erfindung. Sie macht aus Menschen Erwachsene, indem sie ihnen das Wachsen abgewöhnt. Abgesehen davon bin in solchen Inszenierungen eine Fehlbesetzung: Ich besitze kein Namensgedächtnis, kein Talent zur Nostalgie und bin völlig ungeeignet für Smalltalk. Ich rede gerne über George Harrisons Slide-Stil, über die Tatsache, dass Shakespeare als einziger Autor kapiert hat, wie der Mensch gebaut ist, darüber, dass der Tight End doch die interessanteste Position im Football ist. Aber darüber will keiner reden. Sondern darüber, was ich "jetzt so beruflich" mache. Beim letzten Mal sagte einer: "Ich lese immer deine Kolumnen. Wie lange bist du schon bei der Krone?" Ich schaue aus dem Fenster. Keine Schneeflocke. www.guidotartarotti.at guido.tartarotti(at)kurier.at
Kommentare