Man sagte mir, ich zeichnete die Welt falsch. Dabei zeichnete ich sie nur so, wie ich sie sah.

von Guido Tartarotti

über die Gnade, nicht genau sehen zu müssen

Unlängst habe ich wieder einmal bemerkt, wie schlecht ich wirklich sehe: Ich bin im Flugzeug vom Klo zurückgekommen, habe mich wieder neben meinen Sohn platziert und die Unterhaltung fortgesetzt. Es hat dann doch fast eine Minute gedauert, bis ich am entsetzten Gesichtsausdruck meines Sohnes (sowie an seinem schlechten Deutsch) bemerkte, dass das gar nicht mein Sohn war und auch nicht meine Sitzreihe. SO schlecht sehe ich.

Vorige Woche saß ich in einem Kaffeehaus, als eine Dame zum Tisch kam und auf überaus nette Weise zum Ausdruck brachte, dass sie meine Texte schätze. Nun bin ich ja geradezu lächerlich menschenscheu und reagiere mit Panik, wenn mich jemand Fremder anredet, aber diese Dame war einfach nur ... angenehm.

Als ich später Freunden von dieser Begegnung erzählte, fragten sie mich, wie die Dame denn ausgesehen habe. Erst da fiel mir auf: Ich hatte keine Ahnung. Jung, alt, dick, dünn, groß, klein, Haarfarbe, Kleidung? Ich weiß es nicht. Alles, was ich weiß: Sie war angenehm. Ich wäre ein völlig unbrauchbarer Zeuge vor Gericht. Beschreiben Sie den Täter! Euer Ehren, er war ... sympathisch. Augenfarben z. B. bemerke ich gar nicht. Ich weiß die Augenfarben meiner Kinder oder meiner Freundin nicht ... dunkel?

Ich bin links weitsichtig, rechts kurzsichtig und weitsichtig, dazu kommen Astigmatismus und Sehnervschwäche, das linke Gesichtsfeld fehlt. Bäume zum Beispiel nehme ich nicht als Summe von Stamm, Ästen, Zweigen und Blättern wahr, sondern als grüne Fläche. Ich hatte in der Volksschule in Zeichnen einen Dreier und im Gymnasium sogar ein Nicht genügend. Man sagte mir, ich zeichnete die Welt falsch. Dabei zeichnete ich sie nur so, wie ich sie sah. Übrigens empfinde ich es manchmal sogar als Gnade, nicht genau sehen zu müssen.

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