Der peinlichste Moment

Guido Tartarotti

Guido Tartarotti

Wir dürfen uns von den Mädchen nicht länger unterdrücken lassen!

von Guido Tartarotti

über peinliche Momente

Der peinlichste Moment meines Lebens trug sich im Jahr 1977 zu, als ich an der Volksschule von Hinterbrühl die Revolution ausrief. In der 3b gab es damals eine brutale Zwei-Gruppen-Gesellschaft. Die einen wurden unterdrückt, gezwickt und böse an den Haaren gerissen, sie wurden ihrer Radiergummis beraubt und ihrer Menschenwürde und im Park beim Donnerwetterblitzspielen mit Kastanien beworfen.

Die anderen hatten die Macht. Weil sie einen Kopf größer waren und gemein, weil sie geschickt waren im Zwicken und Haarereißen und im Radiergummiraub und im Kastanienschießen. Und weil sie jederzeit in der Lage waren, so süß auszusehen, dass sich die Lehrerin auf ihre Seite schlug.

Sie werden verstehen, dass ich da nicht tatenlos zusehen konnte. Nun war ich damals klein, Brillenträger und musste karierte Bügelfaltenhosen mit herzförmigen Lederflecken auf den Knien tragen. Aber mir war das Talent der Rede gegeben und ich fühlte tief in der Brust den glühenden Wunsch, die unterdrückten Massen zu befreien ... Abgesehen davon war ich das Hauptziel von Zwicken, Radiergummiraub und Kastanienbeschuss. Also verfasste ich ein Manifest, gab es meinem Banknachbarn mit dem Auftrag, man möge das Papier unter den Unterdrückten weiterreichen, damit das Joch der Tyrannei durch den Funken der Freiheit ... und in diesem Moment ließ der dicke Robert, der blöde Kerl, den Zettel fallen, die Lehrerin stürzte sich wie ein Tiger drauf und las laut vor:

„Mitschüler! Freunde! Buben! Hört mich an!

Wir dürfen uns von den Mädchen nicht länger unterdrücken lassen! Ja, sie sind stärker als wir, doch wenn wir fest zusammenhalten, dann können wir das Joch der Tyrannei ...“

Und das war der peinlichste Moment meines Lebens.

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