Die Zeit wird kommen

Warum meine Tochter zu Weihnachten nicht mehr springen will.
Guido Tartarotti

Guido Tartarotti

Ich habe es nie bedauert, dass die Kinder groß werden. Zusehen zu dürfen, wie zwei kleine Menschen immer mehr zum Bewusstsein erwachen, zur Freiheit, zur Unabhängigkeit, das empfinde ich als Privileg. Im Idealfall begleitet man sie möglichst liebevoll auf diesem Weg, behandelt ihre Neugier mit Respekt, erzählt ihnen möglichst wenig Unsinn und kapiert, dass man mindestens so viel von ihnen lernen kann wie man sie lehrt. Gespräche mit meiner Tochter sind für mich immer lehrreich, weil die gründliche, stoische Art, in der sie sich selbst und das Leben betrachtet und analysiert, im auffälligen Kontrast zur Hektik des Denkens der meisten „Erwachsenen“ steht.

Was sie derzeit beschäftigt: Es ist das erste Jahr, in dem ihr Weihnachten nicht mehr besonders viel bedeutet. Und es irritiert sie, dass es ihr nicht mehr besonders viel bedeutet. Darin liegt ein Widerspruch, und der ist ihr bewusst: Wenn einem etwas nicht mehr wichtig ist und einen dieses Nichtmehrwichtigsein traurig macht, dann ist es einem ja doch wichtig.

Gemeinsam erinnern wir uns daran, wie Weihnachten war: Ich ging immer mit ihr und ihrem Bruder ins Kasperltheater, während ihre Mutter und ihr Stiefvater daheim die Wohnzimmertüre mit Zeitungspapier zuklebten, durch welches sie dann bei der Bescherung springen durften. Meine Tochter würde gerne noch springen, weiß aber, dass sich das nicht mehr ausgeht, weil es sich unecht anfühlen würde. Ich verspreche ihr, dass die Zeit kommen wird, in der sich Weihnachten und das Springen wieder richtig anfühlen werden, wenn auch auf andere Weise. Wir sind ein bisschen traurig und lachen die Traurigkeit gemeinsam weg.

Ich empfinde die Zeit nicht als Freund, aber sie hilft uns, das Springen immer wieder neu zu lernen, wenn wir nur wollen.

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