Zu den Neujahrsfesten betrinken sich die Menschen seit Jahrtausenden vor Freude darüber, dass im neuen Jahr endlich alles gut wird.

von Michael Fleischhacker

über das Veränderungspotenzial des Menschen

Der Wille, neu zu beginnen, auch wenn das vollkommen aussichtslos erscheint, gehört zum menschlichen Basisprogramm. Und wie alles, was zum menschlichen Basisprogramm gehört, hat der Neubeginn seit jeher seine Liturgien. Zu den Neujahrsfesten betrinken sich die Menschen seit Jahrtausenden vor Freude darüber, dass im neuen Jahr endlich alles gut wird, dass nach einem Jahr der Unterdrückung und des Grauens nun Gerechtigkeit, Frieden und Wohlsein herrschen werden. Das war bei den alten Ägyptern in Memphis, Theben und Achetaton so, bei den Ptolemäern in Alexandria, bei den Assyrern und Seleukiden in Ninive und bei den Babyloniern sowieso. Die Natur hat ihnen gezeigt, dass es möglich ist, dass aus dem Abgestorbenen jedes Jahr neues Leben kommen kann. Auf das radikale Veränderungspotenzial des Menschen bezogen, scheint es leichter, solche Vorstellungen in Gemeinschaft aufrechtzuerhalten. Nicht zufällig sind regelmäßige Messbesuche bei den Anonymen Alkoholikern effizienter als der individuelle Neujahrsvorsatz, mit dem Trinken aufzuhören.

Wie weit die oberägyptischen Neujahrskulte fortwirken, wird man heuer besonders gut in Österreich beobachten können: Irgendwann im Herbst, zur Zeit der Ernte, feiern die Österreicher wieder ihr neuerdings nur noch alle fünf Jahre stattfindendes politisches Neujahrsfest, das auf den liturgisch-poetischen Namen „Nationalratswahlen“ hört. Mit der fiskalischen Freibier-Ausschank wurde bereits begonnen, und man darf damit rechnen, dass der Großteil des Wahlvolks im Oktober jenen Grad an Trunkenheit erreicht haben wird, den man während des Neujahrsfestes in den Straßen der alten Städte beobachten konnte. Dennoch oder gerade deshalb werden sie glauben, dass alles anders geworden sein wird, wenn sie ihren Rausch ausgeschlafen haben werden.

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