Ernsthafte Gespräche über die Frage, warum wir tun, was wir tun, vermeiden wir nach Möglichkeit.

von Michael Fleischhacker

über das Ergebnis eigener Gewissenserforschung

Mein Freund, der Advokat, nimmt mich gelegentlich zum Krafttraining mit Hanteln, Foltergeräten und Beinpressen mit. Ernsthafte Gespräche über die Frage, warum wir tun, was wir tun, vermeiden wir nach Möglichkeit. Meine eigenen Motive waren mir lange Zeit vollkommen unklar, was ihn betrifft, hatte ich immer so meine Vermutungen.

Mein Freund verfügt, sonst wäre er nicht mein Freund, über etwas, das wir komplexe Persönlichkeitsstruktur nennen wollen. Seine inzwischen auch von bescheidenen Erfolgen gekrönten Versuche, sich an der Grenze zwischen Postadoleszenz und Protogeriatrie die Brustmuskulatur eines Türstehers aus der Bronx anzutrainieren, kontrastieren mit seiner Begeisterung für die schöne Literatur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Er liest Proust im Original, Mann nur in der schönen Ausgabe mit dem fetten Leinen, und Bulgakow tunlichst nicht in der Neuübersetzung.

Als ich einmal über Muskelschmerzen, so genannte „Spatzen“, klagte, sagte mein Freund, der Advokat: „Dein Fehler: Du willst sportlich sein. Ich will sportlich aussehen.“ Das zwang mich, doch einmal ernsthaft über meine Motive nachzudenken. Nicht, dass ich auf das Ergebnis meiner Gewissenserforschung stolz wäre, aber die Wahrheit ist dem Muskelaffen zumutbar: An erster Stelle steht der Wunsch, im Krapfenwaldbad für meinen ältesten Sohn gehalten zu werden.

Seit ich mir das zum ersten Mal ehrlich einbekannt habe, beginnt eine Stirnglatze Besitz von der Außenwand meiner Gedächtnishalle zu ergreifen. Dass die Gesellschaft, in der alle immer ehrlich zueinander sind, die schlimmste von allen vorstellbaren Gesellschaften wäre, ist mir seit Langem klar. Dass man inzwischen aber nicht einmal mehr zu sich selbst ehrlich sein darf, halte ich für einen Skandal.

Kommentare